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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)


hatte. Eine Nonne war fort, verschwunden, die Schwester Marcella; eigentlich erst eine Novize, wie ich schon sagte. Die Sturmglocke sollte das Volk zusammenrufen, um ihr nachzusetzen, sie zurückzubringen. Man hatte sie vor einer Viertelstunde erst vermißt.

Die Schwester Marcella war die jüngste Novize im Kloster. Sie war erst seit sechs Wochen da und hatte das Läuten der Mitternachtshora zu besorgen. Die Novizen müssen sich an das Schwerste gewöhnen. Die Glöcknerin mußte sie dazu wecken und sie hinführen. Zehn Minuten vor Mitternacht war die Glöcknerin zu ihrer Zelle hinaufgegangen. Sie hatte die Thür der Zelle offen, nur angelehnt gefunden. Es fiel ihr auf. Es war verboten, und die Schwester Marcella hatte immer ihre Thür fest verschlossen gehalten. Sie ging in die Zelle; sie rief hinein, nach dem Lager hin: „Schwester Marcella, es ist Zeit!“ Sie erhielt keine Antwort. Sie trat zu dem Lager, es war leer und unberührt geblieben. Sie sah sich in der Zelle um, sie war leer, wie das Lager. Sie eilte zu der Priorin und machte dieser Anzeige. Es werden andere Nonnen geweckt; sie durchsuchen die Zelle nochmals; sie ist und bleibt leer. Sie durchsuchen die Gänge, die Treppen, die Fluren, das ganze Kloster ist auf den Beinen; Schwester Marcella bleibt verschwunden, und kein Mensch weiß von ihr, Keiner hat etwas von ihr gehört oder gesehen. Wo mag sie sein? Wie mag sie entkommen sein? Das Gitter vor dem Fenster ihrer Zelle war unversehrt. An keinem andern Gitter war nur eine Stange los. Alle Thüren, die aus dem Kloster führen konnten, waren verschlossen.

Doch eine wurde zuletzt unverschlossen gefunden, die, die aus dem Kloster in die Kirche führte. Schwester Marcella war fromm, sehr fromm; man hatte sie schon vorher manchmal zu ungewöhnlicher Zeit in Thränen an den Stufen des Altars liegend gefunden. War sie wieder in der Kirche? Man drang hinein. Aber sie war auch da nicht. Man läutete die Sturmglocke, um der Entflohenen nachsetzen zu lassen; denn entflohen war sie. Es wurde ihr nachgesetzt, von allem Volke, vergeblich. Man fand nicht einmal eine Spur von ihr, auch später nicht, bis auf den heutigen Tag nicht.“ –

Der alte Schiffer sprach die letzten Worte mit einem eigenthümlichen, stillen, zufriedenen, geheimnißvollen Lächeln. Ich sah es durch die Nacht. Er mochte sich unbemerkt glauben, – seine Augen flogen zugleich über das Kloster hinweg, stromaufwärts in die Berge hinein. Er wußte etwas, wahrscheinlich mehr, als die Anderen, und durfte es nicht verrathen. Aber ich mußte es wissen. Ich hatte schon so Vieles errathen; ich mußte Alles wissen. Wie konnte ich ihm sein Geheimniß entlocken? Ich dachte darüber nach. Ich durfte nicht auf einmal an ihn herantreten.

„Auch der Verfolgte ist nicht wieder zum Vorschein gekommen?“ fragte ich ihn.

„Auch er nicht.“

„Man hat auch nichts von ihm gehört?“

„Kein Wort. Hm, freilich weil die Beiden, der Verwundete und die Nonne, so zu gleicher Zeit und so geheimnißvoll verschwunden waren, so wollten die Leute Allerlei munkeln.“

Er lächelte wieder zufrieden und geheimnißvoll vor sich hin.

„Die Leute hatten aber wohl das Unrechte getroffen?“ fragte ich ihn rasch.

„Sie sprachen ja von Dingen, von denen sie nichts wußten.“

„Und was hatten sie gemunkelt?“

„Eben das, was sie nicht wußten.“

Er war gerieben, der alte Schiffer. Zu überraschen war er nicht. Aber er gehörte zu den Leuten, die gern plaudern und daher plaudern müssen und zuletzt ihre Geheimnisse nicht mehr für sich behalten können. Man muß sie nur ungeduldig zu machen wissen.

„Woher wußten Sie,“ fragte ich ihn, „daß der Verfolgte ein verwundeter Officier war?“

„Die Leute von drüben sagten es.“

„Die ihn gefahren hatten?“

„Nein, Andere – nachher.“

„Wo waren jene, die beiden Ruderer, geblieben?“

„Gott weiß es. Sie hatten sich erst nach einem Vierteljahre, als die Soldaten das Land verlassen, nach Hause zurück gewagt.“

„Mit ihrem Nachen?“

„Hm, mit dem Nachen war es erst recht eine eigene Sache gewesen. Der trieb am zweiten Morgen nachher frei und leer auf dem Wasser herum. Kein Mensch wußte, wo er hergekommen war.“

„Erzählten die beiden Ruderer nach ihrer Rückkehr nichts?“

„Gar nichts.“

„Nicht, wie der Verwundete befreit worden, wie sie selbst entkommen seien, wo sie sich die Zeit über aufgehalten hätten?“

„Von Allem nichts. Sie sagten nur, sie hätten in der Schweiz gearbeitet, bis sie hätten in ihre Heimath zurückkommen dürfen.“

„Es war also ein Geheimniß bei der Sache?“

„Es mußte wohl so sein.“

„Die Schwester oder die Novize Marcella war erst seit sechs Wochen im Kloster gewesen, sagtet Ihr?“

„Gerade seit sechs Wochen.“

„Woher war sie gekommen?“

„Das wußte man nicht.“

„Man hat auch später nichts darüber erfahren?“

„Man hat nachher gar nichts mehr von ihr gehört. Alles, was man von ihr gehört, Alles, was man von ihr wußte und auch noch nur von ihr weiß, ist Folgendes: An einem Abende im Frühsommer war noch spät eine fremde, große, schöne und junge Frauensperson an die Klosterpforte gekommen, hatte Einlaß begehrt und gebeten, noch in der Nacht die Frau Priorin sprechen zu dürfen. Die Priorin hatte sie vor sich gelassen. Die Fremde hatte um Aufnahme als Nonne, als Novize gebeten. Sie könne in der Welt nicht mehr leben. Sie könne nur noch Ruhe finden im Gebete zu Gott und im Umgange mit den frommen Schwestern. Sie hatte die Priorin weinend, knieend gebeten, sie nicht zurückzuweisen, sie nicht wieder in die Welt zu verstoßen. Sie hatte nur die eine Bedingung aufgestellt, daß man sie nie nach ihrem bisherigen Leben, nach ihren früheren Schicksalen fragen möge. Die Priorin ist eine strenge, aber wahrhaft gottesfürchtige und brave Frau. Sie nahm die Fremde auf und fragte sie nicht einmal nach ihrem Namen, nach dem Lande, aus dem sie komme. Sie mußte weit hergekommen sein; man hörte es an ihrer Sprache; sie redete das Deutsche, wie man es im Norden von Deutschland zu sprechen pflegt. Sie erhielt den Klosternamen Marcella; unter dem hat man sie nur gekannt. Sie war in den sechs Wochen, die sie da war, immer eine musterhafte Novize gewesen, fromm, wie nur eine der Nonnen, und unverdrossen in allen Diensten, die von ihr verlangt wurden. Nur über Eins hatten die übrigen Nonnen geklagt, daß sie niemals mit ihnen ein anderes Wort gesprochen habe, als was zum Dienst und zur Tageszeit gehörte. Sie war fromm und fleißig, aber auch immer eben so still gewesen. Des Nachts freilich war sie nicht immer so still,“ setzte der alte Schiffer hinzu, und er lachte dabei nicht.

„Wie so?“ fragte ich ihn.

„Hm, Herr, sie mußte wohl eine recht unglückliche Person sein. Ich habe es oft gesehen und gehört. Schon gleich wenige Tage nachher, da sie gekommen war. Es war eine dunkle Gewitternacht, ich hatte mich beim Fischen verspätet und fuhr allein in meinem Nachen nach Hause zurück. Als ich am Kloster ankam, hielt ich mich dicht an den Mauern; der Wind konnte mich da nicht fassen.“


(Fortsetzung folgt.)


Wintervergnügen auf der Newa.

Von G. C. Heigel.

Goethe hat einmal gesagt, daß man im Winter hinter dem Ofen die schönsten Frühlingslieder dichte. Es mag dies wahr sein, denn man besingt stets das am besten, was man momentan entbehrt. Wir nun entbehren den Winter durchaus nicht und sind, nachdem wir fast acht Monate von Schnee und Eis umgeben waren, viel zu vernünftig, uns nach dem Winter zurückzusehnen, wenn uns

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 212. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_212.jpg&oldid=- (Version vom 31.3.2020)