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konnte und bei der Berührung durch sie todt zu Boden fiel. Aehnlich ergeht es mir. Die reine Luft, welche ich hier athme, regt mir das Blut auf und macht meine Gedanken so unruhig durcheinander wogen, daß ich kaum weiß, was ich fühle und was ich wünsche. Die Natur um mich her ist groß und ernst, die Menschen sind ihr ähnlich. Hier geboren und erzogen zu sein, hier zu leben, wenn man hier erzogen ward, ist vielleicht ein neidenswerthes Glück, aber nicht Jeder ist für jedes Glück geschaffen. Die Sprache klingt rauh an mein Ohr, die Wahrheit des Ausdrucks ist oft zu nackt, und erscheint doppelt so, wenn sie neben der Verfeinerung auftritt, welche eine große Anzahl meiner Landsleute sich im Auslande erworben haben. In keinem Gesichte sehe ich jenes Lächeln, Franziska’s Lächeln, welches mein Herz erwärmte, und keiner Lippe entquillt ihr süßer Ton!

Den 25. August. Die Nähe meiner Schwester thut mir wohl. Ihre Heimath freilich ist in diesen Bergen. Ihr Sinn ist hoch, ihr Verstand klar wie diese Luft, ihr Herz tief und still wie die ruhenden Seen dieses Landes, und ihr Auge sieht auf Jeden und auf Alles so sanft herab wie die Sonne am Mittag. Jeder Tag erschließt mir deutlicher, was meine Schwester ist, jeder Tag macht mir es klarer, was sie aus mir machen möchte. Vorsorgende Liebe soll hier im Lande die Wege bahnen für eine Ausgleichung, die zu kommen nicht säumen wird. – Wie weit hin ihre Verbindungen reichen, wie gut sie unterrichtet ist! – Die Nähe täuscht den Blick bisweilen wirklich. Mich dünkt, auch ich sehe von hier aus deutlicher, was sich jenseits der Berge vorbereitet, was an dem Horizonte Frankreichs emporsteigt, und was auch hier emporsteigen könnte, ein drohendes Gespenst, wenn man’s nicht im Voraus zu bannen trachtet.

Den 29. August. Welch köstliche Tage habe ich verlebt! Es scheint mir, als hätte ich zum ersten Male, seit ich lebe, frische Luft geathmet. Die Sonne ging eben auf, als wir Thuris verließen. Es war kalt auf der Lenzer Haide, der Inn floß voll und weißschimmernd durch die Wiese hin, die hier, ein wahres Naturspiel, zwischen den Felsen ausgebreitet ist. Es muß viel Schnee geschmolzen sein, viel Wasser sich gelöst haben von den Gletschern, der Strom hat sich mächtig gehoben. Die Sonne ist schön, wenn sie über die Berge emporsteigt und warm und liebevoll das Lebendige bis in die tiefsten Gründe suchen und erquicken geht. Eine Sonne sollten die alten Geschlechter in ihr Wappen setzen – barmherzig erwärmen und beleben müßten sie die Welt mit ihrem Lichte, damit man ihnen das Bestehen gönnte, das Bestehen wünschte und auf ihr Bestehen hoffte, wie auf der Sonne unfehlbares Licht.

Ich meinte so viel Menschen zu kennen, so viel Freunde zu haben in Paris, hier will mir’s erscheinen, als hätte ich Niemand gekannt und keinen Freund gehabt. Was wußte ich von den Menschen, die ich täglich sah? Was wußten die Menschen von mir, die sich meine Freunde nannten? Conradine kannte Kind und Kindeskinder, wohin wir kamen. Sie wußte, was man erstrebte, was man bedurfte, was Jedem fehlte und worauf er hoffte, und Jedermann wußte von ihr. Man rief ihr entgegen, als man mich an ihrer Seite sah, man hatte mich mit ihr erwartet, und man tadelte sie, daß sie den Sohn noch immer in der Fremde lasse. – „Ich gönne ihm Zeit, es einsehen zu lernen,“ sagte sie sich vertheidigend, „wie viel besser es hier in Bünden ist!“ – Solche Gemeinsamkeit verdoppelt das eigene Leben, und wenn ich höre, welche Sorgen die Andern zu tragen haben, mit wie Wenigem sie sich zufrieden geben, wie viel und wie wenig der Einzelne leisten kann, so bewältigt mich eine Art von Resignation. Daneben kommt mir der Wunsch zu nützen und zu beglücken – damit das Leben nicht ungebraucht vergeht. Wie oft ich auch zurück denke nach Paris – was könnte ich dort erfahren, das mich freute?

Am Nachmittage langten wir bei dem alten Freunde meiner Schwester an, das bevorstehende Fest mit ihm zu feiern. Das ist ein echter Rhätier, ein echter Bündner, dieser alte Herr von Gunta; und wie vornehm er aussieht in seiner altväterischen Tracht, in der dunklen, schmucklosen Kleidung! wie schön seine Tochter aussah, als sie an ihres Vaters Seite uns auf der Schwelle ihres Hauses zu begrüßen kam! Die Falten ihres weißen Kleides flossen leicht bewegt an ihrem schönen Leibe nieder, das blaue Band, das ihr schwarzes, unfrisirtes Haar zusammenhielt, spielte im Winde auf ihrer bräunlichen Schulter, und die dunkeln Augen begrüßten mich so zutraulich, als hätte sie einen Bruder vor sich, oder als wäre die prächtige Jungfrau noch ein Kind, das noch alle Menschen liebt und von Allen sich nur Gutes erwartet.

Am folgenden Tage fand die abermalige Installation des Herrn von Gunta zum Landammann statt. Er war schon früher dreimal in diesem Amte gewesen, und weil er Vertrauen genießt, kam man von dem ganzen Gau zusammen, der Feier beizuwohnen. Schon früh am Morgen zogen die Mädchen spazierend einher, in den scharlachrothen, faltenreichen Röcken, auf welche von den schwarzsammetnen, goldverbrämten Miedern die langen Bänder bis zu den Fersen niederhingen. Wie die seidenen, vielblumigen Schürzen schimmerten, und wie keck und fröhlich die Augen blitzten unter dem straff emporgekämmten Haar, das die kleinen Käppchen und die großen Silbernadeln nicht zusammen zu halten vermochten! Auch Fräulein von Gunta hatte für den Tag die Landestracht angelegt, und half den Mägden ihres Hauses bei der Bewirthung der Gäste, als wäre das ihres Amtes. Ich machte ihr eine Bemerkung darüber. Sie sah mich mit einem gewissen Erstaunen an. „Soll ich den Menschen nicht dienen,“ sagte sie, „welche gekommen sind, meinem Vater Vertrauen und Ehre zu erweisen?“

Das Schloß füllte sich mehr und mehr, und da die Hausfrau todt ist, vertrat Veronika ihre Stelle. Ihr Anblick rührte mich, weil ihre stolze Freude über ihres Vaters Ansehen sie so demüthig machte, und alle ihre Demuth den Adel ihres Wesens nicht verbergen konnte. Mitten aus dem Kreise der sie umgebenden Mädchen sah man immer sie. Ich habe in Trianon manchmal an der Seite der Königin gestanden, wenn sie die Schäferin spielte; man konnte es vergessen, daß man eine Königin vor sich hatte, so lieblich sah sie aus. Veronika’s strenge, königliche Schönheit läßt sich nicht verhüllen, fordert in jedem Augenblick Bewunderung – Bewunderung – nicht Liebe.

Den 30. August. Das Volksfest auf Schloß Gunta liegt mir noch im Sinne, die natürliche Freude bei demselben hat mich erwärmt. Jedermann war gerührt, als von fern her der altertümliche Marsch erklang, und die drei ausgeputzten Musikanten, mit den bunten Bändern an ihren Hüten und Instrumenten, in feierlich gemessenem Schritte vor den berittenen Wahlmännern einhergingen, die, fest in ihre Mäntel gehüllt, den Degen an der Seite und eine bunte Kokarde am Hute, ihnen bis an die Pforte des Schlosses folgten. Hier stiegen die Wahlmänner ab, und während die Menge sich in dem Schloßhof und außerhalb desselben immer dichter zusammendrängte, holten die Wahlmänner mit dem bisherigen Landammann den neuen Landammann herunter. Barhäuptig und mit goldbordirten Mänteln setzten sich die beiden Landammänner nun ebenfalls zu Pferde, während die Musik und die Menge ihnen entgegen jubelten und die alte Gerichtsfahne, welche schon die Schlachten des fünfzehnten Jahrhunderts mitgemacht, vor ihnen einhergetragen wurde. Eine Weile ging der Zug durch das Land, und selbst die Frauen, selbst meine Schwester und Veronika schlossen sich ihm an. Mitten in einer Haide machte man Halt. Der bisherige Landammann bestieg einen der auf der Haide liegenden Steine und übergab mit Dank für das Zutrauen seiner Mitbürger das Amt in des alten Gunta Hände. Nun betrat dieser die natürliche Tribüne, und in einer Umgebung, die großartiger nicht leicht zu denken ist, stehend auf dem Steinblock, der vielleicht schon Jahrtausende an dieser Stelle gelegen, leistete er den Eid der Treue in der alterthümlich hergebrachten Form, empfing er das kleine, braun angestrichene Stäbchen und das mehrere hundert Jahre alte, vergilbte Statutenbuch als Insignien seines Amtes, die er dem Weibel zur Bewahrung übergab, und sprach dann in kräftig feuriger Rede zu dem Volke, von dem Glück der Freiheit, deren sie genossen, und von dem stolzen Bewußtsein, keinen Herrn über sich zu wissen, als den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden, der diese Berge in ihren Grundfesten aufgerichtet, der das Firmament ausgespannt über die Erde und seine Sonne daran gesetzt, und der lebendig unter ihnen sei in seinen Wundern und Zeichen.

Und als solle dieser Rede ein Schluß gegeben werden, großartig und imponirend wie der Sinn des Mannes, der sie gesprochen, so rollte in dem Augenblicke von der nächsten Bergesspitze eine mächtige Lawine hernieder, daß ihr lauter Donner über das Thal hinschallte und wieder und wieder von den Felsen nachklang, bis das letzte Echo in dem jubelnden Lebehoch und Vivat untergangen war, mit welchem die Bürger ihren Erwählten begrüßten.

Ich fühlte mich wohl in den Reihen dieser Menschen. Das Herz schwoll mir in einer großen Empfindung, und ich war gerührt. Conradine bemerkte es. „Hast Du Aehnliches erlebt an Deinem Königshofe zu Versailles?“ fragte sie. Ich bin ihr die

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 66. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_066.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)