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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Die Cavallerie der Alpen.
Originalzeichnung von H. Jenny.


schon in seinem Sommerhause weilt. Es herrscht Todtenstille, und mit schauerlichen Gesichtern sehen die weißen Riesen der Umgebung auf den einsamen Grat nieder; die einzige Gesellschaft lebender Wesen besteht in drei Bergdohlen, die zwischen Felsgeröll nach Futter suchen, und dabei nach einander zum Scherz mit den Schnäbeln hacken. Der Stand der Sonne zeigt die Mittagstunde an, aber von dem gastlichen Geist dieser dem Gaum und Magen so holden Tageszeit ist keine Spur vorhanden; hier hat die Civilisation noch nicht das Reich der Natur verkümmert. Aber was ist das? Dort in der mit Alpenrosen halb bedeckten Felsfurche kriecht ein lebendes vier- oder zweifüßiges Wesen bergan, es trägt einen mit dem Gemsbart geschmückten grauen Spitzhut, eine einst blaue, verblichene Blouse und grüne Gamaschen, es hilft sich mit einem Alpenstock mühselig weiter, jetzt hat es die Felsplatte erreicht, wischt den Schweiß von der Stirn, ein anderes Wesen mit Gepäck auf dem Rücken folgt ihm, rollt einen Plaid auf und wickelt ihn rasch um die Schultern des männlichen Säugethiers mit den grünen Gamaschen.

Der erste Reisende der Saison mit seinem Führer ist auf der Höhe eingetroffen, ein Exemplar jener merkwürdigen Gattung von Geschöpfen, welche der treffliche Friedrich von Tschudi in seinem beliebten Werke „das Thierleben der Alpenwelt“ entweder vergessen oder aus Zartgefühl absichtlich ausgelassen hat. Sobald die Schneefelder dem warmen Strahl der Sonne weichen und die Höhen gangbar werden, erscheint zuerst die in ganz Europa verbreitete, aber in der weiten Fläche zerstreut lebende Species des Schweizerreisenden, der sogenannte „gemeine Meilen- oder Stundenfresser“, auf den Alpen. Den Winter und das Frühjahr hindurch lebt er in den Städten von Actenarbeit, Rechtshändeln, Vorlesungen, Bücherschreiben und Gymnasialunterricht, wird seines bissigen Wesens wegen gefürchtet, ist von magerer Leibesbeschaffenheit,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 13. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_013.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)