Seite:Die Gartenlaube (1858) 721.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Unterhaltung mit ihr, so schien das intellectuelle Fluidum des gegenseitigen Verständnisses plötzlich wie unterbrochen und sie selbst gleichsam auf einen geistigen Isolirstuhl versetzt – sie hörte wohl noch, aber sie verstand nichts mehr! Viel befangener, schüchterner und zurückhaltender schien sie auch in der Unterhaltung mit ihr weniger bekannten Personen – gerade als schäme sie sich bei diesen mehr der für sie unvermeidlichen Sprachschnitzer.

Sehr bald nach den ersten Sprachstunden begann Herr Eck auch mit ihr den Schreib- und Leseunterricht; auch hier waren Carolinens Fortschritte erfreulich, und seit Herbst 1855 las sie bereits Gedrucktes und Geschriebenes fließend und in ziemlich richtiger Betonung. Schon im April desselben Jahres schrieb sie einfache Sätze, die ihr Eck dictirte, passabel richtig nach, obgleich sie es bis zu einer gänzlich fehlerfreien Orthographie nie brachte. Manche uns vorliegende Proben ihrer Hand aus den verschiedensten Perioden ihres Hierseins zeigen eine sich in deutschen wie in lateinischen Charakteren immer fester entwickelnde Schrift jenes derben, großen Schlages, wie sie gewöhnlich zehn- bis zwölfjährigen Schulkindern eigen ist.

Doch bietet das allmähliche und verhältnißmäßig rasche Erlernen von Lesen und Schreiben bei ihr bei weitem nicht jenes Interesse, als ihr angebliches Erlernen des Deutschsprechens. Freilich täuschte sie auch in Bezug auf jene Fertigkeiten, denn etwas schreiben und lesen konnte sie jedenfalls schon von ihrer Schulzeit her, wogegen sie im Deutschreden, als in ihrer Muttersprache, selbstverständlich doch so gut bewandert war, als Jeder von uns auch, überdies die Gefahr, sich zu verrathen, hier viel näher lag als dort, und zu dieser Täuschung eine weit eminentere Verstellungskunst gehörte, als zu jener. Die Art und Weise aber, wie sie diese Kunst verstand und übte, ist ohne Uebertreibung – bewunderungswerth!

Caroline legte einen bedeutenden Lerneifer an den Tag, und ein entschiedener Bildungstrieb machte sich nach dieser Seite hin bei ihr geltend. Sie wußte bald Herrn Eck zu bestimmen, ihre Unterrichtsstunden zu vermehren. Im März 1855 begann Herr Eck auch mit dem Rechenunterricht. Was Caroline seiner Zeit von den Buchstaben, das behauptete sie jetzt auch von den Ziffern: daß sie nämlich früher gar nicht gewußt habe, daß es dergleichen gäbe. Doch konnte sie in ungarischer Sprache von 1 bis 29 ziemlich richtig zählen, und auch im Rechnen machte sie rasche Fortschritte. Sie brachte es darin bis zum richtigen Schreiben und Aussprechen siebenstelliger Zahlen, und wußte zuletzt einfache Aufgaben der Regel de tri sowohl schriftlich, als auch im Kopfe zwar etwas langsam, aber doch stets mit Bewußtsein der Gründe zu lösen.

Im Frühjahr 1855 veranlaßte sie ihr umsichtiger Lehrer, die nicht geringe Anzahl von Wörtern, deren sie in der ungarischen Sprache mächtig war, aufzuschreiben und die deutsche Benennung für jedes ungarische Wort möglichst beizusetzen. Diese Aufzeichnungen ergaben ein Resultat, welches nur dazu beitragen konnte, ihre Glaubwürdigkeit zu approbiren. Denn jene Zusammenstellung enthielt auch nicht ein einziges Wort, das einen Gegenstand bezeichnete, welcher außerhalb des sehr engen Kreises ihrer sinnlichen Anschauung in jener Waldwohnung lag, worin sie vorgab, den größten Theil ihrer Jugend verbracht zu haben: unseres Bedünkens einer der feinstgesponnenen Fäden ihres meisterhaften Betrugs! – Wenn Herr Eck in diesem Verzeichniß auch nur ein Wort gefunden, welches nicht innerhalb jener sehr beschränkten Begriffssphäre gelegen gewesen, er hätte ihren Betrug vielleicht sofort entschleiert; wogegen die Unantastbarkeit jenes Verzeichnisses nicht wenig dazu beitrug, das Siegel der Wahrhaftigkeit erst recht auf ihre Lebensbeschreibung zu drücken, mit deren Erzählung sie ungefähr um dieselbe Zeit begann.

Nachdem nämlich Caroline in ungefähr 120 Stunden und beinahe dreivierteljährigem Unterricht sich einigermaßen in deutscher Sprache verständlich zu machen gelernt hatte, veranlaßte sie ihr Lehrer, ihm die Hauptmomente ihrer Vergangenheit mitzutheilen. (Auf diese die Neugier schon im Voraus zu spannen, hatte sie durch frühere gelegentliche Aeußerungen, wie: „Ich nicht sagen können, was ich denke; ich viel wissen und nicht sagen können!“ trefflich verstanden.) Dies geschah jedoch keineswegs in geordneter, zusammenhängender Erzählung; vielmehr gab sie ihre Geschichte in vielen einzelnen Bruchstücken, die Herr Eck zum großen Theile erst aus ihr herausfragen mußte, sammelte und aus allen diesen Theilen und Theilchen erst nach Monaten ihre Geschichte mosaikartig zusammenfügte. Die wichtigeren und kritischsten Partien derselben wurden überdies durch vielfach wiederholten Fragen festgestellt.

Die auf diesem Wege erhaltene Geschichte war der Art, daß sich Herr Eck veranlaßt, ja gleichsam verpflichtet fühlte, sie in Gestalt der genugsam bekannten Broschüre in die Oeffentlichkeit zu geben. Diese Schrift erregte die ungetheilteste Aufmerksamkeit in den weitesten Kreisen und die drei P: Presse, Publicum und Polizei waren auf’s Eifrigste dahinter her. (Im Jahre 1856 erschien zu Amsterdam sogar eine wortgetreue holländische Uebersetzung der Schrift, und selbst amerikanische Zeitungen referirten die Sache.)

Der Grundton, auf den Carolinens ganzer Seelenzustand gestimmt, auf den all’ der tiefe Kummer, welcher an ihrem Herzen zu zehren schien, sich in unsern Augen zurückführen ließ: es war die beständige Sehnsucht nach ihrer früh verlorenen Mutter! Mit dieser Sehnsucht wußte sie sehr fein berechnet ein allgemeines menschliches Interesse für ihr Schicksal in vielen Gemüthern wach zu rufen. Auch nach „Magyar“ (Ungarn) schien sie zuweilen ein Heimweh zu überkommen, selbst nach Bertha. Lieder von der Heimath stimmten sie wehmüthig und in sich gekehrt. In solcher Stimmung äußerte sie einmal: „Mein Leben ist ganz zerknickt; ich habe Niemand, was mich fesseln sollte! Ach, wenn ich Abends gegen Himmel sehe – ich freue mich oft auf den Abend, daß ich mich recht satt weinen kann – das ist mein einziger Trost!“

Ihr Lehrer hatte nicht verfehlt, vor Herausgabe der Bekenntnisse dieser schönen Seele Carolinen nochmals nachdrücklichst auf die große Verantwortlichkeit hinzuweisen, die er damit vor der Oeffentlichkeit übernehme, und ihr geschildert, wie schrecklich es für ihn sein müsse, auch nur eine Unwahrheit unter seinem Namen zu publiciren. Mit Entschiedenheit entgegnete sie ihm: „Ich sagen, was ich wissen! Ich nicht sagen können, was ich nicht wissen!“ Zudem schien sie auch die Hoffnung, vermöge der Eck’schen Veröffentlichungen ihre Mutter wiederfinden zu können, mit sichtlicher Freude zu erfüllen. Ja, es war ordentlich, als ob die chimärische Mutter sich so sehr in ihrer Einbildungskraft festgesetzt habe, daß sie zuletzt gleichsam zur fixen Idee in ihr wurde, an die sie schließlich selbst glaubte.

Wer mochte wohl auch an eine bloße Erfindung glauben bei einem Geschöpf, dessen Anschauungs- und Erkenntnißvermögen von einer noch so durchaus kindischen Naivetät zeugte! Einer ihrer vollendetsten Züge war aber der, nicht nur das Nothwendige, sondern auch noch das Ueberflüssige zu unserer Bethörung zu thun. So z. B., als sie einst bei einem Leichenbegängniß eine große Anzahl von Menschen sah – wem wäre es da wohl aufgefallen, wenn sie sich darob nicht verwundert hätte! Und dennoch verwunderte sie sich baß, daß es „so viele Menschen gäbe auf der Welt!“ Auf verschiedene an sie gerichtete, an sich höchst geringfügige Fragen in Betreff dieser und jener Einzelheiten ihrer Geschichte beharrte sie auf einem entschiedenen „Das weiß ich nicht mehr!“ wo es ihr ein Leichtes sein mußte, ebenfalls eine Erfindung zum Besten zu geben, was wiederum nur dazu beitragen konnte, die Glaubwürdigkeit für ihre übrigen positiven Aussagen um ein Wesentliches zu erhöhen.

Da Caroline vorgab, auch von Religion, Gott, Christus etc. nicht das Mindeste zu wissen, so war es Herrn Eck’s nächste Aufgabe, sobald er sich ihr nur einigermaßen im Deutschen glaubte verständlich machen zu können, mit dem Religionsunterrichte ebenfalls bei ihr zu beginnen. Da sie hierbei fast noch größere Aufmerksamkeit entwickelte, als in den übrigen Fächern, so konnte sie bereits von Ende Januar 1856 an den Religionsunterricht besuchen, welchen Eck als Lehrer der Volksschule zu Offenbach den Mädchen seiner Classe ertheilte. Auch an Mittheilung von Schriften sittlich-religiösen Inhaltes ließ es Herr Eck bei ihr nicht fehlen, als das Verständniß dafür bei ihr immer mehr zu erwachen schien. Sie hat viel und mit Eifer solche Schriften gelesen; eine Lectüre, welche schädlich auf sie einzuwirken vermochte, hat man nie bei ihr gefunden. Unter allen die liebste ist ihr stets geblieben die Geschichte Josephs und seiner Brüder aus dem alten Testamente; diese hat sie unzählige Mal gelesen und wieder gelesen, oft selbst Abends im Bette. Den Grund für diese tiefgehende Vorliebe suchte man natürlich zunächst darin, daß die Schicksale Josephs mit ihren eigenen einige Aehnlichkeit hätten.

„Warum,“ frug sie Herrn Eck, als ihr dieser die Geschichte von Joseph zum ersten Male erzählt hatte, „hat Joseph so lange wartet, bis seine Brüder kommen sin, und hat nicht gleich Getreide

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 721. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_721.jpg&oldid=- (Version vom 13.12.2020)