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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

anknüpfte, auf verdächtige Spuren. Dieser Mann hatte die Gewohnheit, häufig Nachts auf seinem Fahrzeuge, das ihn schon über zwanzig Jahre trug, zu schlafen. In derselben Nacht, bei deren Anbruch der fremde Mann meine Braut aus dem Hause zu locken wußte, hörte er leise Ruderschläge in der Nähe seines Schiffes. Er verließ seine Koje und hob den Kopf aus der Luke. Nur etwa hundert Fuß weit vom Ufer entfernt gewahrte der Robbenschläger einen Nachen, der offenbar landwärts steuerte und hier auch bald in den schmalen Hafen der kleinen Au einlief. Es saßen drei Personen in dem Nachen, zwei Männer und eine Frau. Letztere sprach lebhaft mit ihren beiden Begleitern und brach dann in Schluchzen aus. Gleich darauf will er einen dumpfen Schrei vernommen haben, worauf der Nachen in weiterer Entfernung von ihm wieder durch rasche Ruderschläge die hohe See zu gewinnen suchte. Etwa drei Meilen vom Lande in der Richtung, welche der Nachen nahm, lag – und dieses Umstandes erinnere ich mich ebenfalls – ein großer Schooner vor Anker. Am Morgen war er verschwunden, und da er keine Flagge gezeigt hatte, erfuhr man nicht, welcher Nation er angehört haben mochte.“

In diesem Augenblicke ward der Wind lebhafter. Er war ein paar Striche westlicher gelaufen und der Grönlandsfahrer wurde dadurch genöthigt, seinen Cours etwas zu ändern. Mitternacht war vorüber. Ueber die bisher glänzenden Gestirne legten sich matte Schleier, der Mond hüllte sich in gelbliche Dünste, die alsbald einen farbigen Regenbogen um ihn bildeten. Die Wache sollte abgelöst werden und wir, ich und Henricksen, machten uns eben bereit, uns in unsere Kojen zurückzuziehen, als das langsame Heranschweben eines beweglichen Schattens uns noch länger fest hielt auf Deck. Es war ein prächtig getakeltes Schoonerschiff, das an uns vorübersegelte. Es kam uns so nahe, daß die weit ausgestoßenen Spieren unserer Bark beinahe die Segel des Fremden streiften. Außer dem Manne am Steuer und dem Wachtmat am Bug sahen wir Niemand am Bord. Still zog es an uns vorüber, ohne uns anzurufen oder eine Flagge zu zeigen. Dem Baue nach hielten wir es für einen Normann.

Henricksen erfaßte meine Hand und zog mich mit sich in die Cabine. Durch seine Erzählung war er mir viel näher gerückt worden. Ich betrachtete ihn jetzt mit ganz andern Augen, und was mir früher an ihm abstoßend erschien, das zog mich jetzt an. Das Schicksal des armen Mannes interessirte mich und wenn ich auch nichts für ihn thun konnte, so ward doch eine gewisse Neugier in mir lebendig, die befriedigt zu werden wünschte, wenn irgendwie eine Spur sich auffinden lassen sollte, welche zur Entdeckung des verschwundenen Mädchens führen könnte.

Die Erzählung Henricksen’s hatte mich so aufgeregt, daß ich die ganze Nacht nicht schlafen konnte, an einer Fortsetzung derselben aber wurden wir verhindert, da der bis dahin so schweigsame Vollmatrose sich außer mir Niemand offenbaren wollte. Auf mein Befragen, weshalb er so zurückhaltend sei, erwiderte er nur:

„Ich bin mißtrauisch geworden gegen Jedermann. Marie Anne war treu und redlich und nur einem falschen Freunde konnte es gelingen, sie so zu bethören, daß sie ihm arglos folgte, um auf eine oder die andere Weise dem Verderben oder dem Tode anheim zu fallen.“




III.
Das Busentuch.

Von dieser Nacht an wurde ich mit Henricksen eng befreundet. Ließ es sich irgend thun, dann ward es so eingerichtet, daß wir des Nachts die Wache immer zusammen hatten. Unsere Unterhaltung drehte sich dann meistentheils um Henricksen’s verschwundene Braut, und wir entwarfen mehr als einen Plan, ihren Spuren auch jetzt noch nachzuforschen, obwohl sehr wenig Aussicht vorhanden war, diese nach so langer Zeit wieder aufzufinden. Man war Anfangs zu lässig gewesen, was freilich nicht Henricksen zur Last fallen konnte. Die spärliche Bevölkerung der Küste, wo Marie Anne unter nur wenigen Bekannten lebte, machte sie auch nur einem kleinen Kreise bekannt. Entfernter Wohnende konnten das junge Mädchen gesehen haben, ohne im Geringsten auf es zu achten. Und Henricksen war seinerseits verhindert, sich lange an Marie Anne’s Geburtsorte aufzuhalten, da die Heuer ihn ungesäumt wieder an Bord des Schiffes rief, mit dem er schon in den nächsten Tagen in See gehen sollte.

Der Grönlandsfahrer hatte eine glückliche Reise. Er erreichte in verhältnißmäßig kurzer Zeit den Ort seiner Bestimmung, und nun beeilten wir uns, getroffener Abrede gemäß, Henricksen’s Heimath zu besuchen.

Wir fanden Marie Anne’s früheren Dienstherrn noch am Leben, ebenso den alten Robbenschläger. Beide wurden abermals an das Verschwinden des jungen Mädchens erinnert, und bereitwillig gingen sie auf eine nochmalige Erzählung des ihnen bekannt Gewordenen ein. Mir fiel dabei ein Umstand auf, den ich in Henricksen’s Erzählungen bisher nicht angeführt fand. Der Küster wußte, daß eine Jugendfreundin Marie Anne’s, die, wie die Verschwundene, in einem Dienstverhältnisse stand, ein Andenken von ihrer Freundin besitze, das sie sehr hoch halte und Niemand zeigen wolle. Worin dies bestehe, konnte uns der Küster aber nicht sagen.

„Das Mädchen müssen wir aufsuchen und sprechen,“ sagte ich. „Was sie Niemand entdeckt, wird sie Dir gewiß mittheilen. Komm, laß uns ungesäumt aufbrechen!“

Henricksen pflichtete mir bei. Der Hof, auf welchem Leonore diente, lag von dem Kirchdorfe fast eine Meile weit entfernt. Der Weg dahin führte den Strand entlang, über Deiche und um tief eingespülte Wehle, die man umgehen mußte. Er war öde, traurig von Ansehen, und für einsame Wanderer fast unheimlich. Das monotone Aufrauschen der Brandung an dem niedrigen Kiesstrande, das Geschrei und Gekrächz der zahllosen Seevögel, die über der weiten, unebenen Fläche flügelschlagend kreischten, dort und da ein uraltes Heidengrab, mit rostfarbenem Heidekraut und Ginster überwuchert, rauchende, halb verfallene Torfhütten dazwischen an tiefen, schwarzen Moortümpeln, und ab und an auf unfruchtbarem Gelände ein hochragender erratischer Block machten den Eindruck tiefster Schwermuth auf den Wanderer und erfüllten ihn mit düstern Gedanken.

Der Hof, das Ziel unserer Wanderung, lag ganz einsam auf etwas erhabenem Terrain, so daß sich von ihm aus die Umgebung nach allen Seiten ziemlich weit überblicken ließ. Außer einem großen Garten aber, auf dessen Pflege viel Sorgfalt[WS 1] verwendet war, umgab ihn ringsum unfruchtbares Moor- und Heideland.

Leonore war daheim. Unserm Wunsche, sie zu sprechen, willfahrte ihr Dienstherr. Sie stellte sich bald ein und musterte uns mit halb verlegenen, halb neugierigen Blicken. Es war ein sehr hübsches Mädchen, brunett, schlank und voll. In ihren feurigen Augen blitzte Schelmerei und Leidenschaft. Sie kannte uns nicht, erst als Henricksen sich nannte, ahnte sie den Zweck unseres Kommens. Sie erschrak so heftig, daß sie auf einen Schemel sank.

„Die arme Marie Anne!“ rief sie aus. „Wo sie wohl geblieben sein mag?“

Ich war genöthigt, für Henricksen das Wort zu ergreifen. Es fiel mir nicht schwer, Leonore das Nöthige mitzutheilen, denn das Mädchen gefiel mir und es machte mir Vergnügen, recht traulich und, wenn es sein könnte, auch recht lange mit ihr zu plaudern. Meine einleitende Rede schloß ich mit den schnell hingeworfenen Worten:

„Ihr habt ein Andenken von Eurer Freundin?“

Leonore erröthete und sah mich fragend an, ohne zu antworten.

„Habt Ihr dasselbe von Eurer Freundin mit der ausdrücklichen Bedingung erhalten, es Niemand zu zeigen, Niemand wissen zu lassen, worin es besteht?“

„Es hat gar keinen Werth,“ sprach darauf Leonore, „denn es ist ein ganz einfaches Tuch.“

„Das sie Euch schenkte?“

„Nein, ich fand es.“

„Und warum behieltet Ihr den Fund?“

„Weil ich meine Freundin nie wiedersah,“ versetzte sie, indem klare Thränen ihre Augen füllten.

„Ihr fandet es also nach Marie Anne’s Tode?“

„Mehrere Tage nach ihrem Verschwinden.“

„Wollt Ihr mir das Tuch wohl zeigen, Leonore?“ fiel jetzt Henricksen ein. „Ich möchte doch wissen, ob ich es kenne.“

Das Mädchen stand auf, ging in ihre Kammer und kehrte, mit einem Tuche in der Hand, wieder zu uns zurück.

Henricksen griff begierig darnach und betrachtete es genau. Es war ein Halstuch, wie es junge Mädchen auf dem Lande damals trugen, aber er kannte es nicht, er behauptete, es niemals bei seiner

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Sorfalt
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 699. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_699.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)