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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Bemerken muß ich übrigens, daß der Entwurf der neuen Verfassung mit erläuternden Bemerkungen schon seit August dieses Jahres in Aller Händen war, und daß seitdem auch namentlich die Presse des Landes ihn für und wider fast unablässig besprochen hatte. Die Leute hatten sich also wohl ein Urtheil bilden können. Und die es sich etwa noch nicht klar gebildet hatten, warteten ruhig ab, was ihnen in der Landesgemeinde noch vor der Abstimmung der regierende Landammann in seiner über den Gegenstand zu haltenden Rede sagen werde.

Daß diese große Ruhe und Sicherheit des Volkes etwas Imponirendes hatte, brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen. Man sah den Leuten an, einerseits das klare, felsenfeste Bewußtsein: Um unsere Freiheit handelt es sich nicht, die nimmt uns Niemand und nichts in der Welt. Es kommt eben nur auf eine oder ein paar neue Formen an, die ihr Gutes haben mögen, die aber auch ihre Gebrechen haben können, ohne die übrigens unsere Vorfahren fertig geworden sind. Man sah dann aber auch andererseits das Bewußtsein: Jedenfalls sind wir selbst und wir allein es, die darüber zu bestimmen haben, wie es werden soll; kein Fremder, kein Dritter, kein anderer Mensch in der Welt hat uns drein zu reden! –

Aber, Erbarmen! werden Sie zum öftern ausgerufen haben, mein lieber Freund! Erbarmen, wann kommt denn endlich die Appenzeller Landesgemeinde?

Geduld, jetzt kömmt sie wirklich!

Um neun Uhr Morgens waren schon mindestens sechs- bis siebentausend Appenzeller Männer in dem Dorfe Hundwyl versammelt. Zwölftausend „ehr- und wehrhafte Männer,“ welche das achtzehnte Jahr erreicht haben, zählt das Land Appenzell-Außerrhoden. Zehn- bis elftausend konnten also erwartet werden.

Die sämmtlichen Anwesenden waren in ihrer festlichsten Kleidung. „Festliche Kleidung“ verordnet das Gesetz. Die Kleidung, in der man zum Abendmahl geht, schreibt das uralte Herkommen vor. Alle trugen dunkle, die bei weitem Meisten schwarze Röcke und Beinkleider. Beinahe Alle den schwarzen runden Hut (Cylinder). Tief hinten aus dem Lande waren auch noch alte Männer mit dem Dreimaster da. Aus anderen Gegenden wieder Andere mit dem czakoähnlich von unten nach oben immer weiter sich ausdehnenden runden Hute der ersten Zeit des französischen Kaiserreichs.

Jeder ohne Ausnahme trug ein Seitengewehr. Es war das Zeichen ihrer „Ehr- und Wehrhaftigkeit“, sein Tragen war im Gesetze geboten. Ohne den Degen an der Seite hätte Keiner stimmen dürfen. Man sah Seitengewehre aller Art und Zeit. Die meisten trugen ihre Infanteriedegen, beziehungsweise Cavalleriesäbel des schweizerischen Heeres.

Jeder Schweizer-Soldat (Landwehrmann) hat seine Waffen stets bei sich zu Hause. Landwehrzeughäuser, worin sie, wie in Preußen, aufbewahrt würden, kennt man in der Schweiz nicht. Andere trugen Hirschfänger, noch Andere Patentdegen. Manches Gewehr mochte seine zwei- bis dreihundert Jahre alt sein.

Um elf Uhr Vormittags sollte die Landesgemeinde beginnen. Um neun Uhr fand der erste officielle Act zu ihrer Vorbereitung statt: ein Sonntagmorgengottesdienst in der Dorfkirche. Die Behörden des Landes, die „Regierung“, mußten Theil daran nehmen. Von den Anderen konnten sich so viele anschließen, als die Kirche faßte. Es mögen nicht viel über tausend gewesen sein. Die Glocken des Kirchthurms riefen wenige Minuten vor neun zu der Kirche. In demselben Momente stellten sich Musiker vor dem Wirthshause zur Krone auf.

In dem Wirthshause zur Krone, nicht weit von der Kirche, befanden sich, des Rufes zur Kirche harrend, die „Herren von der Regierung.“ Sie waren in einem besonderen Zimmer versammelt.

Hinter der Musik stellte sich die Ehrenwache der Regierung auf, Wächter und Wärter aus dem Dorfe, gekleidet wie die anderen Männer, nur daß sie außer ihren Seitengewehren große alterthümliche Lanzen trugen.

Als die Glocke neun schlug, begann die Musik einen Marsch zu blasen. Augenblicklich traten die Herren von der Regierung aus dem Wirthshause hervor.

Zuerst die beiden Landammänner, sie gingen paarweise. Ihnen folgten die Anderen nach dem Range; alle gleichfalls paarweise. Hinter der höchsten Corporation, dem sogenannten „zweifachen Landrathe“, gingen drei „Weibel“, voran der „Landweibel.“ Mit Ausnahme dieser drei Weibel und des einen Landammanns zeichnete sich keiner durch seine Kleidung vor den übrigen Landleuten aus. Der „regierende“ Landammann trug einen einfachen schwarzen Mantel und einen hohen dreieckigen Hut, den „Landammannsmantel“ und den „Landammannshut.“ Die drei Weibel trugen Mäntel, von denen die ganze eine Seite weiß, die andere schwarz war.

Weiß und schwarz sind die Appenzeller Landesfarben, oder wie es hieß, „Standestracht.“

Die drei Männer sahen sonderbar genug darin aus. Sah man sie links, so waren sie von unten bis oben schwarz, sah man sie rechts, so sah man nur die weiße Seite des Mantels. Alle hatten die Häupter entblößt. So ging der Zug feierlich in die Kirche. Alle Umstehenden entblößten gleichfalls ihre Häupter.

Was, wie gesagt, in die Kirche mit hinein konnte, ging mit hinein. Aber nur Männer der Landesgemeinde. Ich trug keinen Degen; ich konnte nicht mit hinein. Ich kann Ihnen daher auch nichts über den Gottesdienst sagen, zumal da ich wahrhaftig später vergessen habe, mich darnach zu erkundigen. Es wird wohl der gewöhnliche Sonntagsgottesdienst gewesen sein, mit Bezug in der Predigt auf die politische Wichtigkeit des Tages. In der Schweiz wird dadurch ein Gottesdienst nicht zu einem politischen Verein.

Um zehn Uhr war die Kirche zu Ende. Die Regierungsherren kehrten nicht in das Wirthshaus zurück; sie begaben sich in das Pfarrhaus, in welchem zugleich eine Etage zu dem von der Gemeinde zu liefernden Gerichtshause diente.

Um halb elf Uhr wurde darauf die Landesgemeinde feierlich zusammengerufen. Dies geschah in folgender Weise:

Zwei Trommler und ein Pfeifer durchzogen dreimal die Gassen des Dorfes. Eine Schutzwache von jenen Lanzenträgern begleitete sie. Trommler und Pfeifer trugen wieder die „Standesfarbe,“ eine Art Militairfracks, die zur einen Hälfte weiß, zur anderen schwarz waren. Bis vor einigen Jahren hatten sie auch Westen und Beinkleider so von verschiedener Farbe getragen, so daß das eine Bein schwarz, das andere weiß bekleidet war. Sie sahen auch jetzt noch sonderbar aus, auf der einen Seite Arm, Brustlatz, Rockschoß schwarz, auf der andern Alles weiß.

Nachdem der dritte Umzug der Trommler und des Pfeifers beendigt war, erschien ein Sängerchor von vierzig bis funfzig Männern auf dem Landesgemeindeplatze. Sie sangen zwei „Landesgemeindelieder“: „Ode an Gott“ (Alles Leben strömt aus Dir) und „Dem Vaterlande“ (Rufst du, mein Vaterland).

Die ganze Landesgemeinde war unterdeß auf dem Platze versammelt. Es waren über elftausend Männer. Während des letzten Liedes erschienen die Herren von der Regierung, von Musik begleitet und in demselben Zuge, wie sie vorhin zur Kirche sich begeben hatten.

Aber vorerst muß ich Ihnen den Landesgemeindeplatz beschreiben. Ich kann es mit wenigen Worten. Mitten im Dorfe, an der Hauptgasse, liegt ein weiter, grüner, offener Rasenplatz. An seiner Rückseite und rechten Seite stehen kreisförmig Häuser des Dorfes. Links stößt die Kirche an ihn. Nach vorn läuft er ohne Beschränkung eine hohe Wiesenanhöhe hinan. Es waren zwei Tribünen auf ihm errichtet, die eine, kleinere, dicht an der Dorfgasse, mit dem Rücken nach den hinter dem Platze stehenden Dorfhäusern, die zweite, größere, der ersteren gegenüber, ungefähr fünfzig Schritte von ihr entfernt. Jene erstere war einzig und allein für den regierenden Landammann bestimmt, dem der Landschreiber und die oben genannten drei Weibel in ihren halb schwarzen und halb weißen Mänteln folgten. Die größere Tribüne sollte die sämmtlichen übrigen Landesbehörden mit Einschluß des „stillstehenden“ Landammanns aufnehmen.

Wie für die Landesgemeinde keine Sitze da waren, so mußten auch sämmtliche Beamte stehen, der regierende Landammann nicht ausgenommen. Es war Alles einfach. Die Beamten nahmen, so wie sie erschienen, ohne weiteres Ceremoniell ihre Plätze ein.

Sobald der regierende Landammann oben auf der Tribüne angelangt war, nahm er seinen „Landammannshut“ ab. Einer der Weibel nahm ihn von ihm in Empfang. In demselben Augenblicke entblößten die Mitglieder der Behörde ihm gegenüber und alle Tausend Männer auf dem weiten Platze ihre Häupter. Ebenso Alles, was auf und neben dem Platze, in den Fenstern der benachbarten Häuser und auf der Gasse, selbst auf dem Dache der Kirche, an Zuschauern da war.

Sie fragen mich, wo ich mich befand?

Ich war mit dem Herrn Grunholzer gekommen, den Alle kannten. Ich konnte mich hinstellen, wohin ich wollte. Ich durfte mich

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