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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Sie wurzeln in dem gemeinsamen Boden des Vaterlandes; deutsche Sprache und Geschichte, deutsche Sitte und deutsches Recht sind die Elemente, aus denen sie ihre Nahrung ziehen, die sie zum wahren Lebenssaft für sich und Andere verarbeiten. Zu diesem Zwecke steigen sie, wie der Bergmann, in die Tiefe der vergangenen Jahrhunderte und suchen, rings von dunkler Nacht umgeben, nach den reinen Goldadern, in denen sich die Herrlichkeit, Macht und wunderbare Schönheit des deutschen Volksgeistes verbirgt. Mit einem Fleiße und einer Gewissenhaftigkeit, die selten Ihresgleichen finden, werden von ihnen die alten, kaum lesbaren Urkunden durchforscht, die räthselhaften Runenschriften gedeutet, die Pergamente aufgerollt, die Folianten aufgeschlagen, ein Zeugniß abzulegen für die Schätze von unsern Vätern auf uns vererbt, die da sind deutsche Sprache, an tiefer Weisheit und Innigkeit des Gemüths allen Zungen der Erde überlegen; deutsches Recht, zwar vom römischen Unwesen überwuchert, aber noch heute dem verwandten Bruderstamme der Angelsachsen als Schutz und Bollwerk lhrer beneideten Freiheit dienend.

Durch derartige Forschungen haben sich die Brüder Grimm ein unsterbliches Verdienst um das deutsche Volk erworben, indem sie nicht nach der Weise anderer Gelehrten in die Ferne schweifen und darüber das Nächste vergessen, Fremdes preisen und das Heimische verachten; sondern der Kräftigung, Hebung und Erstarkung des deutschen Nationalbewußtseins ihr ganzes, segensreiches Leben und Wirken widmen. So wird nicht nur die Wissenschaft, sondern das Leben selbst durch ihre Arbeiten bereichert, nicht ein Stand, sondern ein ganzes Volk ihnen zu Dank verpflichtet. Was sie mit unsäglichem Fleiße aus den Tiefen der Vergangenheit herausgeholt, gereicht der Gegenwart und den Zeitgenossen zur Freude und zum Nutzen. Während sie auf dem dunkeln Sprachgebiete den Wurzeln und Abstammungen der Worte und ihren wunderbaren Fügungen nachgehen, erschließen sie uns zugleich den Geist und die tiefere Beziehung zu unserem Nationalcharakter, welche oft in dem bloßen Worte ruhen; indem sie uralte Sitten, Gebräuche und Rechtsverhältnisse aufdecken, erwecken sie in uns das Bewußtsein unserer eigenen Zustände, stellen sie in uns den Zusammenhang mit der Vergangenheit wieder her, weisen sie uns auf die Bahn organischer Entwickelung in dem Leben der Nation.

Alles, was damit zusammenhängt, fällt in das Bereich ihrer bewunderungswürdigen Thätigkeit, die deutsche Grammatik, welche sie erst begründet und ausgebaut, deutsche Rechtsalterthümer, die sie aus dem Schutt hervorgegraben, deutsche Minne- und Meistersänger, die sie liebevoll uns durch treffliche Ausgaben zugänglich gemacht, deutsche Märchen, die sie gesammelt und der Kinderwelt geschenkt.

Wie die Wellen des Rheinstroms die Burgen des Mittelalters, die rebenbekränzten Hügel und den blauen Himmel wiederstrahlen, umrauscht von den ernsten Mahnungen der Geschichte, den wehmüthigen Stimmen der Sage, den Liedern der Sänger, in der Tiefe aber den goldenen Hort der Nibelungen, den Schatz der Muttersprache bergend: so spiegelt sich in diesen beiden Männern das ganze deutsche Leben nach allen Seiten wieder.

Nur dem verwandten Geiste erschließt sich der Geist, wie sich dem leuchtenden Auge das Licht offenbart. Um die hohe Bedeutung des deutschen Wesens und Volkscharakters zu erfassen, muß man vor allen Dingen selbst ein Deutscher und ein Charakter sein. Die Eigenschaften, welche mit Recht den Deutschen zugeschrieben werden, finden sich in den Brüdern so scharf ausgeprägt, so schön entwickelt, daß man sie als Typen der Nation hinstellen darf. Ihr ganzes Leben legt dafür ein unumstößliches Zeugniß ab.

Jakob und Wilhelm Grimm wurden zu Hanau im alten Kattenlande Hessen geboren, wo trotz aller traurigen Ereignisse die angeborene Treue nicht zu ersterben, die Liebe zum Vaterlande mit der Muttermilch eingesogen zu werden scheint. Ihr früh verstorbener Vater war, Justizamtmann in Steinau an der Straße, ein höchst arbeitsamer, ordentlicher und liebevoller Mann. Nach seinem Tode blieb die Familie mit einem schmalen Einkommen zurück, das kaum hingereicht hätte, die Mutter mit ihren sechs Kindern zu erhalten, wenn nicht eine ihrer Schwestern, Henriette Philippine Zimmer die bei der Kurfürstin oder damaligen Landgräfin von Hessen erste Kammerfrau und von der reinsten, aufopfernden Liebe für die Anverwandten beseelt war, sie treulich unterstützt hätte. Auf ihre Veranlassung kamen die beiden Knaben, nachdem sie einen dürftigen Privatunterricht in ihrer Heimath genossen, auf das Lyceum nach Kassel, wo Jakob noch so sehr zurück war, daß er erst in Unterquarta gesetzt werden konnte. Bald aber holte er, durch Fleiß und von seiner ungeduldigen Lernbegierde getrieben, das Vernachlässigte ein und rückte von Classe zu Classe weiter, während Wilhelm, durch ein sich ausbildendes, von den schrecklichsten Qualen und Martern begleitetes Herzleiden heimgesucht, noch zwei Jahre zurückbleiben mußte, ehe er, wie sein Bruder, die Universität zu Marburg beziehen konnte.

Die Trennung der Geschwister, die stets in einer Stube gewohnt und in einem Bette geschlafen hatten, ging Beiden sehr nahe, allein es galt für Jakob, der geliebten Mutter, deren Vermögen fast zusammengeschmolzen war, durch eine zeitige Beendigung seiner Studien und baldige Erlangung einer Anstellung einen Theil ihrer schweren Sorgen abzunehmen. Er wählte das Studium der Jurisprudenz, hauptsächlich, weil sein Vater Jurist gewesen war und die Mutter es am liebsten sah. In späteren Jahren hätte er, wie er selbst geäußert, keine andere Wissenschaft gewählt, als – Botanik, zu der er sich besonders hingezogen fühlte, gerade wie Wilhelm, der an dem Sammeln von Insecten und Schmetterlingen seine Freude fand. – Eine gemeinsame Liebe zur Natur ist ihnen zu allen Zeiten geblieben, ein naturwissenschaftlicher Trieb und Blick, der sich auch in ihren sprachlichen Arbeiten wiederfindet.

Auf der Universität mußte Jakob sehr eingeschränkt leben; er selber klagt, daß es ihm, trotz aller Verheißungen, nie gelungen war, die geringste Unterstützung zu erlangen, ohgleich die Mutter Wittwe eines verdienstvollen Beamten war und fünf Söhne für den Staat groß zog; die fettesten Stipendien wurden daneben an seinen Schulcameraden von der Malsburg ausgetheilt, der zu dem vornehmen hessischen Adel gehörte und einmal der reichste Gutsbesitzer des Landes werden sollte. So hatte er und sein Bruder sich Alles selber zu verdanken.

„Dürftigkeit,“ schreibt er, über diese Periode seines Lebens redend, „spornt zu Fleiß und Arbeit an, bewahrt vor mancher Zerstreuung und flößt einen nicht unedlen Stolz ein, den das Bewußtsein des Selbstverdienstes gegenüber dem, was Andern Stand und Reichthum gewähren, aufrecht erhält. Ich möchte sogar die Behauptung allgemeiner fassen und Vieles von dem, was Deutsche überhaupt geleistet haben, gerade dem beilegen, daß sie kein reiches Volk sind. Sie arbeiten von unten herauf und brechen sich viele eigenthümliche Wege, während andere Völker mehr auf einer breiten, gebahnten Heerstraße wandeln.“

Zwei Jahre später holte Jakob den unterdeß genesenen Bruder nach Marburg ab, um sich nicht mehr von ihm zu trennen. Beide besuchten dieselben Collegia und hörten dieselben Lehrer, unter denen Savigny durch seine Erscheinunug und Vorträge einen großen Eindruck auf die Brüder ausübte. Bald war es ihnen vergönnt, dem ausgezeichneten Manne näher zu treten, der einen so bedeutenden Einfluß auf ihren späteren Bildungsgang und auf ihr Schicksal ausüben solte. Durch Savigny erhielt ihr Geist eine neue, höhere Richtung, welche die ausgetretenen Gleise des praktischen Brodstudiums weit hinter sich ließ.

Dazu kam der damals unter den Marburger Studirenden waltende Geist; es war ein frischer, unbefangener. Wachler’s freimüthige Vorlesungen über Geschichte und Literatur wurden von Jakob und Wilhelm fleißig gehört und eröffneten ihnen ein neues Gebiet, das sie später so segensreich selbst ausbauen sollten. Ohne ihre juristischen Collegia zu vernachlässigen, nahmen sie auch an anderen Fächern den lebendigsten Antheil und erweiterten so nach verschiedenen Seiten den Kreis ihres Wissens. Savigny’s ausgezeichnete Bibliothek wurde daneben fleißig benutzt; hier bekam auch Jakob andere, nicht juristische Bücher zu sehen, darunter die Bodmer’sche Ausgabe deutscher Minnesänger, die er später so oft in die Hand nehmen sollte. So vielfache Anregungen und Beschäftigungen förderten die jungen Leute, ohne sie zu zersplittern.

„Die Obergewalt des Staates,“ sagt Jakob selbst in einem Rückblick auf sein Universitätsleben, „hat seitdem merklich mehr in die Aufsicht der Schulen und Universitäten eingegriffen. Sie will sich ihrer Angestellten fast allzu ängstlich versichern und wähnt, dies durch eine Menge von zwängenden Prüfungen zu erreichen. Mir scheint es, als ob man von der Strenge solcher Ansichten in Zukunft wieder ablassen werde. Zu geschweigen, daß sie der Freiheit des sich aufschwingenden Menschen die Flügel stutzt und einem gewissen, für die übrige Zeit des Lebens wohlthätigen, harmlosen Sichgehenlassenkönnen, das hernach doch nicht wiederkehrt, Schranken setzt; so ist es ausgemacht, daß, wenn auch das gewöhnliche

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