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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

aus am Sonnabend drei mühevolle Fahrten nach dem Asch und der Lindenstraße ausführte, nur acht Menschen nebst einigen Hausthieren und Habseligkeiten an das Land bringen konnte. Es war aber der Kahn so groß, daß er ohne Ueberfüllung außer den sechs Schiffern noch funfzehn Mann aufzunehmen vermochte. So große Kähne wurden gewählt, weil es sich schon bei den ersten Versuchen zeigte, daß die kleinen keineswegs im Stande waren, dem Andrange der Fluthen nur einigermaßen zu widerstehen. Ebenso waren die meisten Flöße, weil sie wegen ihres zu geringen Umfanges zu wenig tauchen, nicht zu gebrauchen.

Mit dem Anbruche der Nacht mußten die Fahrten in das Freie ganz eingestellt werden, denn sie hätten bei einem Terrain, das allenthalben durch Zäune und andere Hindernisse durchzogen war und die Kähne bald vorn oder hinten, bald rechts oder links der heftigsten Strömung aussetzte, nur zum Verderben führen können. In den Straßen der innern Stadt aber, in welchen das Wasser weniger strömte, fuhren die ganze Nacht Kähne auf und ab, wenn auch nur wenig Hülfesuchende bei der Finsterniß der Nacht ihre Personen denselben anvertrauen mochten und die Meisten es vorzogen, ihr Leben bei drohender Gefahr auf andere Weise in Sicherheit zu bringen.

Die Erlmühle bei Zwickau nach der Wasserfluth.

Aber die schrecklichen Stunden waren nun mit der Nacht herangenaht, schrecklich nicht nur für die vom Wasser Umgebenen, sondern schrecklich auch für die der Gefahr noch nicht Ausgesetzten. Die Fluth nahm immer riesigere Verhältnisse an, das Gefühl der Hülflosigkeit wurde von der Finsterniß verstärkt und das Toben und Brüllen des Wassers brachte die Gefahr in vergrößertem Bilde vor die geängstigten Gemüther.

Bleich sitzen die Glieder der Familie in der Stube umher; du wankt der Boden unter den Füßen und die Mauer, worauf er ruht, sinkt, erweicht vom Alles durchdringenden Wasser, in sich zusammen. Der Vater und die Mutter ergreifen entsetzt die schreienden Kinder und fliehen in ein anderes Zimmer; auch hier dieselbe Gefahr. Sie rufen nach Hilfe, aber diese zu erwarten, ist nicht Zeit. Es bleibt ihnen nichts übrig, sie nehmen die Kinder auf den Rücken und den Arm, steigen hinunter in die kalte Fluth, waten bis unter die Arme im Wasser über den Hof, erzwingen sich mühselig über Zäune und Gärten den Weg und kämpfen, bis sie in des Nachbars festem Hause einen sicherern Aufenthalt gewonnen haben. Andere brechen, wenn ihr Haus dem Einsturz droht, durch den Giebel des Nachbars, müssen sich aber, weil auch hier ihres Bleibens nicht ist, mit den Nachbarn vereint gewaltsam weiter den Weg von einem Hause zum andern bahnen, bis ein festes und sicheres erreicht ist. Auf diese Weise erhielt der Stadtförster Richter in der Leipziger Vorstadt 64 Gäste, denen er in seinen beiden Stuben nicht nur nothdürftiges Lager, sondern auch, so weit seine Vorräthe reichten, Erquickung durch Speise und Trank angedeihen ließ.

Einer nahm den Andern gern und willig auf, theilte mit, so viel und so lange er etwas hatte. Man hat nicht gehört, daß ein Hülfesuchender da, wo überhaupt Hülfe noch möglich war, zurückgewiesen oder verabsäumt worden wäre. Solche Zeiten machen die Herzen weit und groß; die kleinlichen Rücksichten fallen und die gewöhnlichen Verhältnisse des Lebens sind nicht mehr maßgebend; der Mensch wird Mensch und erkennt in jedem Andern ein gleichberechtigtes Wesen; selbst Feinde reichen sich, wenn sie ihr Weg zusammen führt, schweigend die Hand und feiern ein stilles Fest der Versöhnung.

So nur, indem Alles half, wo nur zu helfen war, ist es möglich geworden, da in der grausigen Nacht vom 31. Juli zum 1. August bei hundertfacher Lebensgefahr auch nicht ein Menschenleben zu Grunde gegangen ist. Wem die verzweifelten Hülferufe und Nothschreie während der ganzen Nacht in fast allen Theilen der Stadt durch die Seele gedrungen sind; wer die Wuth des noch immer steigenden Wassers gesehen und gehört hat, welche um Mitternacht einen unerschrockenen Mann bewog, von seinem ihm gegenüberwohnenden Nachbar über das Brausen des unten strömenden Mühlgrabenarmes hinüber laut mit den Worten Abschied zu nehmen: „Nachbar, wir sehen einander nicht wieder; leb’ wohl, leb’ auf ewig wohl, wir sehen einander nicht wieder!“ – dem muß es als ein Wunder erscheinen, wie dem Wüthen des Alles verschlingenden Elementes auch nicht eines einzigen Menschen Leben zur Beute geworden ist.

Endlich früh ½ 2 Uhr hatte das Wasser seinen Höhepunkt erreicht und behauptete diesen eine halbe Stunde lang; dann aber fing es an, langsam zu fallen, und mit dem Dämmern des Tages

dämmerte auch in den am meisten geängstigten Seelen der Glaube

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 517. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_517.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)