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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Gößnitz und Zwickau nehmen müssen, wo sie erst um sieben Uhr ungefähr eingetroffen waren, und von da aus hatten sie bis nach Glauchau drei langer Stunden bedurft, weil sie theilweise nöthig gehabt hatten, ihre auf Bahnwagen verpackten Kähne eigenhändig vorwärts zu schieben. Die ermüdeten und doch helfbegierigen Männer dachten auch nicht erst an ihre Erholung, sondern setzten ihre Kähne sofort in’s Wasser, und obschon der grauenhaften Finsterniß wegen ihre Ordre dahin lautete, während der Nacht nicht über den Strom zu setzen, sondern an der linken Seite der Mulde zu bleiben, so hatte doch der eine Kahn, durch eine Pechpfanne verleitet, den weiten Weg vom Eisenbahndamme ab zwischen dem Feldschlößchen und dem Waisenhause nach der Muldenstraße (genannt Westphalen) und von da über den Sandanger querein durch den furchtbaren Strom bis zum Gründeldamme gefunden. Nun war Trost für Glauchau vorhanden und bis früh gegen zwei Uhr ward theils gerettet, theils Nahrung zugeführt. Mit Tagesanbruch schwammen auch schon die Schaluppen des nachgekommenen Militairs auf der Hochfluth. Schiffer, Soldaten und die beherzten Männer und Jünglinge der in Glauchau bald von selbst gebildeten Schaar der Rettung vereinten nun ihre Kräfte, erst, um die Personen, dann, um die nachgelassene Habe zu retten; – und wer sollte es meinen?! Alle sind gerettet worden, bis auf ein siebenjähriges Kind, welches dem mit seiner Rettung geschäftigten Vater durch einen stürzenden Balken vom Arme geschlagen und von einer einstürzenden Mauer überschüttet wurde. Die Gewässer verliefen sich endlich, so daß man schon Dienstags in verschiedenen Straßen theils gehen, theils waten konnte, und Mittwochs konnte man das fast bloß liegende Elend überall in Augenschein nehmen. Die Muldenstraße, die Wehrgasse, Neugasse, die breite Gasse, die kleine Druckergasse, die Kaiserstraße, Mühlgrabengasse und der Lehngrund sind die hauptsächlichsten Schauplätze der Zerstörung, und man kann nicht durch dieselben gehen, ohne mit Ovid auszurufen:

Si licet in parvis exemplis grandibus uti,
Haec facies Trojae, cum caperetur, erat!

Soweit man jetzt durch genauere Besichtigung ermittelt hat, sind 26 Hauptgebäude, 10 Nebengebäude und 28 unbewohnte Gebäude ganz zerstört. Ferner sind wegen Beschädigung abzutragen 25 Hauptgebäude, 11 Nebengebäude und 15 andere Gebäude. Rathsam ist es ferner abzutragen 19 Hauptgebäude, 2 Nebengebäude und 6 andere Gebäude. Bedeutend beschädigt sind, ohne die Scheunen, 75 Hauptgebäude und 18 Nebengebäude. Jedenfalls stellt sich bei nochmaliger Besichtigung der Nachtheil an Gebäuden noch weit umfassender heraus.

So beklagenswerth auch Alle sind, die an Hab’ und Gut verloren haben, so müssen Aller Herzen sich darüber freuen, daß die übertriebenen Zeitungsberichte von Verlusten an Menschenleben sich auf den Tod eines einzigen Kindes zurückführen, denn das Schicksal jenes freiwilligen Piloten im Backtroge kann nicht der Ueberschwemmung schuldgegeben werden.

Nächst Gott haben wir diese wunderbare Errettung so Vieler den Veranstaltungen der gemeinsamen Bereitwilligkeit zur Hülfe und dem Muthe und der Ausdauer Einzelner zu danken.

Wie Viele gerettet werden mußten, sah man erst Montags, als aus den Kähnen alle die herübergebracht wurden, welche aus Sorge und Angst in den gefährdeten Häusern geblieben waren, statt den schwankenden und wasserschöpfenden Fähren sich anzuvertrauen; und welchen Hunger und Durst Manche in ihren unheimlichen Aufenthaltslocalen gelitten hatten, sah man ihnen beim Aussteigen an’s Land an. Heldenthaten sind von den Rettenden ausgeführt worden: nicht allein durch die Fluthen, auch über die schwankenden Dächer sogar hat man die Verlorenen gerettet.

Wenn der Mensch genöthigt wird, sich und Alles, was er sein nennt, gegen die Uebermacht der Elemente zu schützen, ereignen sich an verschiedenen Plätzen gleichzeitig und in nicht festzuhaltender Reihenfolge Scenen, die eben so unbeschreiblich, wie unvergeßlich sind. So auch zu Glauchau in den Tagen seiner Wassersnoth.

Schon am 31. Juli, also Sonnabends, Nachmittags, als alle Straßen mit Wasser gefüllt waren und immer noch die Fluth höher stieg, watete in der Schießgasse ein Mann, der offenbar im Begriffe war, der Gefahr noch rechtzeitig zu entfliehen, bis an die Brust langsam im Wasser dahin, dessen fortwährendes Steigen ihn endlich nöthigte, sich an eine geschlossene Hausthür zu lehnen. Sein Anklopfen war vergebens. Die Insassen des geschlossenen Hauses hörten es entweder nicht oder getrauten sich nicht zu öffnen. Glücklicherweise kam ein hölzerner Bock, dergleichen Maurer und Zimmerleute zu benutzen pflegen, geschwommen, welchen der schon Verzweifelnde erfaßte, mit vieler Mühe hart an der Wand aufstellte und nun selbst seinen Stand darauf nahm. In dieser Stellung verharrte er, gleich einem christlichen Säulensteher, stundenlang, bis die Leute im gegenüber befindlichen Hause bemerkten, daß er zu wanken begann und sein Gesicht sich veränderte. Zufruf und Gebehrden machten endlich die Bewohner der Seite, woran der Unglückliche stand, darauf aufmerksam, was unter ihren Fenstern vorging, und ein aus dem Fenster geworfenes Seil erfaßte noch der Wankende, schlang sich dasselbe um den Leib und ward so zum Fenster emporgezogen.

Auf der Neugasse wollte ein Familienvater mit den Seinigen der Einladung in das vielleicht noch festere Haus seines Nachbars folgen, aber ein Zwischenraum von neun Ellen mit vier Ellen hohem Wasserstande machte dies unmöglich. Endlich wurde eine Leine aus einem Hause in das andere geworfen, eine ladenartige Kiste auf das Wasser gesetzt und dieselbe noch an eine andere Leine gebunden, damit man sie nach beiden Häusern hin- und herziehen konnte. Ein Knabe bestieg zuerst die Kiste und gelangte glücklich in das andere Haus. Die zweite Fahrt sollte nun die ältere Schwester des gedachten Knaben machen. Auch sie bestieg das elende Fahrzeug, verstand aber nicht, Gleichgewicht zu halten, die Kiste schlug um, das Mädchen lag im Wasser und wäre verloren gewesen, wenn nicht ein junger Mann aus dem Hause, wohin die Fahrt beabsichtigt war, sich in das Wasser gestürzt und die Sinkende wieder so weit gehoben hätte, daß der Vater sie am Haare noch erfassen und in’s Fenster ziehen konnte. Den Anderen war natürlich der Muth zur Ueberfahrt vergangen.

In einem äußerlich fest und gut aussehenden Hause der Neugasse war durch den Einsturz der Hinter- und Bund-Wände auch die Decke der Oberstube eingesunken, wohin sich die Bewohner des Hauses zurückgezogen hatten. Denselben blieb also nichts übrig, als sich in die offenen Fenster zu setzen und unter entsetzlichem Angstgeschrei die Hülfe Anderer anzurufen. Ein junger, aber eben nicht starker Mann aus dem gegenüberstehenden Hause, wohin sich, wie verlautet, nach und nach 23 Familien gerettet hatten, schwamm, mit einer langen Leine versehen, hinüber, verband beide Häuser durch diese Leine, er selbst aber nahm auf seinem Rücken eine der bedrängten Seelen wieder mit zurück. Bei Wiederholung dieser Hülfe reichte aber seine Schwimmerkraft nicht mehr aus und er wäre selbst umgekommen, wenn nicht der starke Besitzer des von so Vielen besuchten Hauses aus dem Fenster gesprungen wäre und ihn selbst gerettet hätte. Derselbe starke Mann holte nun auch nach und nach die in den erwähnten Fenstern Sitzenden zu sich und zwar in der Weise, daß er, selbst bis ziemlich an den Mund im Wasser gehend, sie auf seinen Achseln trug, und diese, weil er selbst füglich nicht gut sehen konnte, durch ihr Festhalten an der erwähnten ausgespannten Leine ihn auf dem geraden Wege nach seinem Hause erhalten mußten. (Siehe nebenstehende Abbildung.)

Wie erwähnt, war der Tag, an welchem die Ueberfluthung der Stadt eintrat, ein Sonnabend. Weil nun der regelmäßig des Sonnabends geschehende Einkauf des Proviants für die einzelnen Wirthschaften unterblieben war, stellte sich bald überall in den bedrängten Häusern der Mangel an Nahrungsmitteln, selbst an Trinkwasser ein. Wie viel Hunger und Durst gelitten worden war, konnte man auf dem Antlitz derer lesen, die endlich am dritten Tage durch die Dresdner Rettungskähne aus ihren Nothwinkeln hervorgetragen wurden. Am gräßlichsten war aber der Mangel in den Häusern, wohin sich theils auf schlechten Fähren, theils schwimmend oder getragen, oder durch eingeschlagene Giebelwände kletternd, so Viele versammelt hatten.

Aus den wankenden und stürzenden Häusern der Druckergasse hatte sich namentlich eine Menge Menschen vermittelst brückenartig übergelegter Breter in die Fenster des nahestehenden Fabrikgebäudes der größten Druckerei gerettet. Niemand hatte Etwas mitgebracht, und Nahrungsmittel waren in dem Fabrikgebäude selbstverständlich nicht zu finden. Nichts blieb übrig, als den Schmachtenden wenigstens Kaffee in Gießkannen vermittelst ausgeworfener Leinen vom Wohnhause des Besitzers aus zuzuschwenken.

So reichte sich, so weit thunlich, der gute Wille überall die Hand.

Gräßlich besonders ist die Noth einer Familie gewesen, welche in einem elenden Bleichhäuschen in der Nähe des Muldenwehres

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 506. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_506.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)