Seite:Die Gartenlaube (1858) 426.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

sich noch so starker Schmerz, noch so tiefe Trauer zeigen, von der Spannung, von der Angst, von dem unruhigen, ängstlichen Lauern eines Verbrechers fand ich keine Spur darin. Sie mußte zugleich eine vollendete Heuchlerin sein, wenn sie eine Verbrecherin war, eine so vollkommene Heuchlerin, wie nach meinen bisherigen Erfahrungen nur eine langjährige Schule des Lasters und des Verbrechens sie bilden konnte.

Nein, rief es in mir, und wenn auch ihre nächsten Verwandten es ihr zutrauen und sie anklagen, und wenn auch der Mensch, an den sie seit Jahren gefesselt ist, ein unerhört frecher Verbrecher wäre, und wenn auch ihr Verhältniß zu ihm das verbrecherischste wäre, die Mörderin ist sie nicht, kann sie nicht sein.

Ich begann mit mildem Ernste das Verhör mit ihr. Sie that sich Gewalt an, ihren Schmerz zurückzudrängen; sie antwortete mir klar, bestimmt, ruhig.

„Sie sind vorgestern Abend hier angekommen?“

„Ja, mit meinem Oheim Mahler. Es war schon in der Nacht.“

„Wo waren Sie bis dahin gewesen?“

„Bei Verwandten an der hannoverschen Grenze.“

„Warum kamen Sie hierher?“

„Mein Oheim kam, mich abzuholen.“

„Welchen Grund gab er Ihnen dafür an?“

„Er sagte, meine Tante wünsche es; es thue ihr leid, daß wir in Unfrieden auseinander gegangen seien, ich sei doch ihres Bruders Kind; sie wünsche, mich wieder bei sich zu haben.“

„War Jemand zugegen, als Mahler Ihnen dies sagte?“

„Wir waren ganz allein.“

„Sie waren schon früher im Hause Ihrer Tante gewesen?“

„Sie hatte mich schon als Kind, nach dem Tode meines Vaters, zu sich genommen.“

„Waren Sie wirklich in Unfrieden von ihr geschieden?“

Sie schlug die Augen nieder und weinte.

„Ja, ich war unartig gegen die Tante gewesen, sehr unartig. Und sie hatte mich doch immer so lieb. Als ich fort war, sah ich es ein, und es that mir leid genug. Darum war ich auch gleich bereit, mit meinem Oheim zurückzukehren.“

Nur die Unschuld oder die vollendete Heuchelei konnte so sprechen.

„Sie haben einen Liebhaber?“ fuhr ich, ohne Vorbereitung, im Fragen fort.

Sie wurde glühend roth und sah mich plötzlich unwillkürlich an; aber eben so schnell schlug sie in großer Verwirrung die Augen nieder. Aber die glühende Röthe wich nicht aus ihrem Gesichte. Nur die Verwirrung des Mädchens, des unschuldigen Mädchens beherrschte sie also. Bei einer Verbrecherin wäre der Röthe eine Todesblässe gefolgt, alle ihre Nerven hätten zittern, auffliegen müssen.

Sie mußte mir antworten.

Leise sagte sie: „Ja.“

Aber dann auf einmal erhob sie ihr Gesicht. Sie sah mich mit ihren großen, schwarzen Augen klar an, und mit lauter, fester, stolzer Stimme sagte sie schnell:

„Aber er ist ein braver Mensch, was man Ihnen auch von ihm gesagt hat. Es ist ein Unglück für ihn, daß er nicht nach Preußen zurückkommen darf; er ist kein Verbrecher, glauben Sie es mir.“

Das war wieder der schöne, zuversichtliche Muth, den sie in jenem hannoverschen Walde gezeigt hatte.

„Warum darf er nicht nach Preußen zurückkommen?“ fragte ich sie.

„Er hat sich leider unter die hannoverschen Schleichhändler begeben, die nach Preußen herüberschmuggeln. Sie verdienen viel Geld und er meinte, wir kämen um so eher zum Heirathen; darum litt ich es. Aber hätte ich Alles vorher gewußt, so hätte ich es nicht gelitten.“

„Was wußten Sie nicht vorher?“

„Daß in Preußen so schwere Strafen darauf stehen. Und dann auch –“

„Und dann?“

„Sie haben ihn in Verdacht, daß er dabei gewesen sei, als vor einem Vierteljahre ein Grenzbeamter von den Schmugglern erschlagen ist; aber es ist nicht wahr.“

„Wie wissen Sie das?“

„Er hat es mir selbst gesagt.“

Es war mir nicht möglich, den schönen Glauben des Mädchens auch nur durch eine Frage des leisesten Zweifels zu stören. War sie wirklich eine verdorbene, verbrecherische Heuchlerin, dieser Schein der reinsten Unschuld hatte etwas Zauberhaftes für mich. Ich konnte ihn mir selber nicht zerstören.

Ich richtete eine andere Frage an sie.

„Ist Ihr Verhältniß zu dem jungen Menschen Ihren Verwandten bekannt?“

„Ja,“ sagte sie mit ihrer vollen Offenheit. „Daher kam auch jener Unfriede mit meiner Tante. Sie sagten, der Fritz sei ein schlechter Mensch und ich solle von ihm lassen. Aber er machte nur lustige, mitunter tolle Streiche, die er freilich wohl hätte lassen sollen; schlechte Streiche hat er aber nie gemacht, und er hat das bravste Herz von der Welt.“

Ich mußte ihr doch noch näher treten.

„Haben Sie vorgestern Abschied von ihm genommen?“

„Ja.“

„Sagte er Ihnen dabei nicht etwas Besonderes?“

„Ich wüßte nicht.“

„Besinnen Sie sich.“

„Ich wüßte gewiß nicht.“

Sie sprach immer mit allen Zeichen vollster Aufrichtigkeit.

„Aber, als Sie im Walde bei ihm waren, sagte er auf ein mal zu Ihnen die Worte: Gretchen, ich habe da einen Gedanken!“

Sie sah mich verwundert an, auch mit einem kleinen Schreck; etwa wie einen Menschen, von dem man unerwartet etwas sieht, das man für Zauberei halten möchte. Ein böses Gewissen war es nicht, was in ihr erschrak.

Sie vergaß in ihrer Verwunderung das Antworten.

„Sprach er nicht jene Worte?“ fragte ich.

Sie wurde traurig.

„Gewiß sprach er sie, der arme Fritz.“

„Und welchen Gedanken hatte er?“

„Er meinte, wenn ich hier wäre, so sollte ich meine Verwandten bitten, daß wir uns heirathen dürften, und meine Tante, daß sie uns ein kleines Capital geben möchte, um uns drüben im Hannoverschen Land zu kaufen. Meine Tante hatte Vermögen, sie hätte es wohl gekonnt.“

Sie sprach auch das Alles offen und frei; ihre Trauer erschien so natürlich.

Auf einmal sah sie mich wieder verwundert, fragend an. Meine Zauberkünste fielen ihr wieder ein; sie mußte jetzt darüber im Klaren sein

„Aber woher wissen Sie, daß der Fritz jene Worte zu mir gesprochen hat?“

„Ich weiß es.“

„Wir waren doch ganz allein.“

Hätte ich noch einen Zweifel an ihrer Unschuld haben können, diese Worte der höchsten Unbefangenheit hätten ihn mir genommen.

Als vorsichtiger Inquirent durfte ich ihr dennoch diese Frage nicht beantworten. Ich mußte in meinem Verhöre fortfahren.

„Wissen Sie, daß Ihre verstorbene Tante ein Testament gemacht hat?“

„O ja. Sie hat mir darin fünfhundert Thaler vermacht. Mit dem Gelde hätten wir uns ja eben das Land kaufen können.“

Und Mahler hatte insinuiren wollen, sie habe, um das Geld zu erben, den Mord verübt!

Ich fragte sie nach der Krankheit und dem Tode ihrer Tante. Sie antwortete auch hier mit der bisherigen Offenheit und Bestimmtheit.

„Wir fanden meine Tante schon krank, als wir ankamen; sie lag im Bette und hatte Erbrechen. Sie hatte auch schon früher oft daran gelitten. Am Morgen ließ sie Rhabarber holen; als sie den aber genommen hatte, wurde es schlimmer mit ihr. Ich war den ganzen Tag bei ihr, um sie zu pflegen; sie freute sich sehr darüber und versprach daher auch, wenn sie wieder besser werde, für mich zu sorgen und auch mit ihrem Bruder für mich zu sprechen. Auch die Frau Kühl war da. Diese blieb die Nacht bei ihr, als ich um neun Uhr Abends zu Bette ging. Ich war müde von der Reise in der vorigen Nacht. Aber schon gegen Mitternacht weckte mich die Frau Kühl: die arme Tante war gestorben.“

Ich richtete specielle Fragen an sie.

„War die Frau Kühl immer bei der Kranken?“

„Nicht immer; sie mußte ein paar Mal nach Hause gehen.“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 426. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_426.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)