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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

No. 28. 1858.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Der erste Fall im neuen Amte.
Vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“
(Fortsetzung.)

Ich hatte unterdeß den Fremden nicht aus den Augen gelassen. Ich hatte eine auffallende Unruhe an ihm bemerkt, die er vergebens zu verbergen suchte. Um sie zu verbergen, hatte er von seinem Bier getrunken. Aber er hatte unwillkürlich rasch das Glas hinuntergestürzt, das noch beinahe ganz voll gewesen. Nach einigen Augenblicken stand er anscheinend ruhig und unbefangen auf.

„Was bin ich schuldig, Frau Wirthin?“

„Sie wollen noch weiter?“

„Ja, ich muß.“

„Nach Preußen zurück?“

„Ja.“

„Aber fürchten Sie sich nicht, am dunklen Abend so allein den Wald zu passiren?“

„Mir wird schon Keiner etwas thun,“ lächelte der Mann mit seinem melancholischen Blick. Das Gesicht war in dem Augenblicke nur hübsch, interessant.

Die Wirthin nannte ihm den Betrag seiner Zeche. Er bezahlte ihn. Dann nahm er seine Mütze und seinen Stock und ging.

„Gute Nacht,“ sagte er.

„Gute Nacht und gute Reise!“ erwiderte ihm die Frau.

Indem er aus der Thüre trat, sah ich ihn noch einen jener raschen, erschrockenen Blicke auf mich werfen.

Ist der Mensch wirklich ein Verbrecher? fragte ich mich. Und trägt denn auch der Criminalrichter jenes Wahrzeichen an sich, durch das der Scharfrichter dem Verbrecher so unheimlich wird? –

„Wer war der Fremde?“ fragte ich die Wirthin.

„Ich kenne ihn nicht. Er sagte, er sei von der anderen Seite.“

„Aus Preußen?“

„Ja.“

„War er schon früher hier?“

„Ich habe ihn heute zum ersten Male gesehen.“

„Kam er aus Preußen?“

„Er kam vor ungefähr einer Stunde an. Er sagte, er komme aus dem Hannoverschen, wo er Geschäfte gehabt habe.“

„Sie wissen auch nicht, woher er ist?“

„Er sagte nichts davon.“

Der Abend war sehr dunkel geworden. Der Himmel hatte nach Sonnenuntergang sich mit Wolken bezogen; die Wolken droheten mit Regen.

Die Wirthin war eine reinliche Frau. Alles im Hause sah sauber aus. Ich beschloß, die Nacht da zu bleiben. Vielleicht trug zu meinem Entschlusse bei, daß das nächste Wirthshaus eine starke halbe Stunde entfernt war, und daß ich in der Dunkelheit durch den einsamen Wald mußte, in dem es, nach den Aeußerungen der Wirthin, nicht ganz sicher zu sein schien. Ich bat die Frau um Nachtquartier und erhielt es.

Aber noch regnete es nicht. Es war eine milde, warme Luft draußen. In der großen Wirthsstube war ich, während die Frau mir das Nachtquartier besorgte, ganz allein. Ich verließ die Stube und trat vor das Haus; ich ging auf die Landstraße. Auf hannoverscher Seite kannte ich sie.

Wie mag denn die preußische Grenze hier aussehen? Ich war unmittelbar von der russischen Grenze her versetzt.

Mir stand diese russische Grenze mit ihrem ganzen abenteuerlichen, ängstigenden und drolligen Apparate vor Augen. Der schwere, gelb und grün angestrichene Schlagbaum, mit der furchtbaren eisernen Kette, die Landstraße versperrend, der tiefe Grenzgraben und der ungeheure Grenzwall dahinter, das ganze Land absperrend; jede Werst ein großes Blockhaus (Cordonhaus), voll von Grenzhusaren und Kosaken zur Bewachung der Grenze; auf dem Grenzwall die schmutzigen Kosaken mit den kleinen scharfen Augen auf den kleinen grauen Pferden unaufhörlich auf- und niedertrabend; über den Rand des Grabens und Walles fortwährend lauernde Augen und Mündungen gespannter Gewehre. Und nun, wenn man den gefährlichen fremden Gesellen mit einem blinkenden Achtgroschenstücke sich nahete, plötzlich vor Freude leuchtende Gesichter, grobe Fäuste, die sich nach den acht Groschen ausstreckten, noch gröbere Lippen, die dem Geber den Saum des Rockes küssen, und wenn sie den nicht fassen können, den Stiefel. Wie oft hatte ich mir selbst so den Uebergang über die Grenze verschafft, wenn die saumseligen russischen Behörden, mit denen ich drüben Geschäfte hatte, mich warten ließen.

So war freilich Rußland gegen Deutschland abgesperrt. Deutsche Länder gegen einander sind es freilich so noch nicht.

Auch Hannover und Preußen waren es damals nicht, obwohl das verschiedene Zollsystem der beiden Länder nicht viel – zu wünschen übrig ließ.

Zwei Grenzpfähle standen an der Landstraße, recht dicht und recht friedlich beisammen; auf dem einen ein weißes Pferd, auf dem andern ein schwarzer Adler. Die beiden Thiere hatten in der That nichts zu thun, als einander anzusehen. Das thaten sie; sie hatten es schon so viele Jahre gethan; man sah es ihnen an, wie langweilig es ihnen war. Sie theilten und theilen noch diese Langeweile mit einigen deutschen Kammern, denen auch die Zeit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 401. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_401.jpg&oldid=- (Version vom 5.6.2018)