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verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

auf den Boden, während meine Seele fort und fort bebte in dem Gedanken, man werde mich bald genug gefangen fortführen, und doch schien jede Minute, die verfloß, ein Jahrhundert. Denn die ersehnte Rettung nahete nicht. Zuweilen schielte ich nach den Polizisten hin, deren Blicke immer mißtrauischer auf mir zu haften schienen. Die Angst stieg immer gräßlicher; die Todesangst kann nicht schauerlicher sein. Jetzt – jetzt! Gott meiner Väter! jetzt traten die Polizisten auf mich zu. Da öffnete sich, so schien es mir, der Boden unter mir, ich versank, mein Bewußtsein schwand. Nur das weiß ich noch, daß ich einen verzweifelnden Blick nach der Thüre warf.“

Das war der Augenblick, in welchem ich mit H. und dem Eigenthümer des Taschenbuches eintrat; gleich darauf sank M. zu Boden. Wie eilten zu seinem Beistande, nahmen das unglückselige Taschenbuch aus der Tasche und brachten ihn fort, indem wir den neugierigen umstehenden Leuten sagten, der junge Kaufmann M. sei in Folge eines gefürchteten sehr bedeutenden Verlustes erkrankt.

Nachdem wir den halb Ohnmächtigen nach Hause und wieder gehörig zu sich gebracht hatten, sagte Herr B., dem wir, H. und ich, sehr dringend hatten zusetzen müssen, bevor er von seinem Entschlusse, den Dieb der Polizei zu überliefern, abstehen wollte:

„Junger Mann, ich sehe wohl, daß die Herren mir recht berichteten, als sie sagten, Sie hätten aus Spaß das Taschenbuch aus meiner Tasche gezogen. Ich wollte es anfangs, ich gestehe es, gar nicht glauben, obwohl mir diese Herren als sehr ehrenwerth bekannt sind. Auch glaubte ich, es sei eine unerläßliche Pflicht, solchen gefährlichen Spaßmacher dem Gericht zu überantworten. Es freut mich jetzt, es nicht gethan zu haben. Doch nehmen Sie sich diese Affaire ad notam, junger Mann, und –“

„Kein Wort weiter, lieber Herr! Ich bin für immer von meiner Spaßmacherei geheilt, und ich fühle mich jetzt so leicht, wie ein neugebornes Kind, und so froh, wie ein Verliebter, der von seiner Geliebten erhört worden ist. Thun Sie mir den Gefallen, meine Herren, und besuchen Sie mich heute Abend zu einer Flasche echten Champagner.“

An diesem Abend erzählte M., in welchem schauerlichen Seelenzustande er sich befunden, als H. von ihm ging.

Höstermann.




Doctor Véron Der Mann, von dem ich diesmal eine Skizze entwerfe, ist ein sehr interessanter und eigenthümlicher Mann; nicht allein, daß er Apotheker, Arzt, Journaldirigent, Operndirector, Politiker, Schriftsteller und – Bonapartist gewesen, sondern weil er mehr ist, als dies, ein Schlaukopf und doch nicht schlau genug, ein echter Typus jenes französischen Bourgeoisthums, welches aristokrätelnd, ehrgierig und blasirt wieder in mehrere Kategorien sich scheidet, in eine gutmüthig-eingebildete – wie sie Doctor Véron repräsentirt, dessen Manövers wir zu skizziren gedenken; in eine raffinirt-geistreiche, wie Herr Emil von Girardin sie vorstellt; in eine auf ihr Geld, ihre Macht und ihre Parvenüschaft stolze, von der der Bankier Mirès ein Typus ist, und endlich in eine niederträchtig-servile, von welcher das widerliche bonapartistische Federvieh Granier de Cassagnac, der durch seine Berserkerwuth gegen die widerstandslose Partei sich auszeichnet, das sprechendste Bild gibt. Dr. Véron ist, wie man hieraus sieht, der Vorsteher der relativ besten Kategorie dieses französischen Bourgeoisthums und wenn dessen Schwächen viel Lächerliches bieten, so kann man im Grunde doch nie böse darauf sein.

Véron, geboren 1798, begann unter der berüchtigten Restauration mit der edlen Doctorei, das beste Geschäft zu jener Zeit, denn alle Welt, Gesellschaft und Staat, laborirte an Krankheiten. Nachdem der Arzt nähere Einblicke in die Pathologie der Zeit gemacht, fühlte er, daß ihm im Grunde doch viel Witz und Verstand zu Theil geworden sei und diese kostbaren Eigenschaften sich in einem Lande, wie Frankreich, besser als in der Medicin verwerthen könnten. Der Doctor legte deshalb Pillen und Mixturen bei Seite, ergriff die Feder und schrieb für die „Quotidienne“, ein ihrer Zeit sehr geachtetes Blatt. Da er das Glück hatte, vom Honorar der Schriftstellerei nicht leben zu müssen, weil er Vermögen besaß, so fühlte Véron sich ungemein wohl bei diesem Zeitvertreib und streichelte sich wohlgefällig sein glattes Kinn, wenn er von einer Tänzerin am Ambigu oder von einem Schauspieler am Vaudeville vernahm, daß seine Artikel sehr geistreich seien.

Unter Ludwig Philipp war der Besitz eines Journals eins der besten Geschäfte; denn nicht allein las das Publicum viel und gern, sondern man vermochte auch dadurch ein Coteriechen, ein Parteichen zu bilden, wodurch man wieder ein bischen Einfluß und Ansehen, zuletzt möglicher Weise eine Deputirten- oder Ministerstelle erreichen konnte. Es war die Zeit, wo das Bourgeoisthum aufblühte, wo es anfing, geistreich zu werden, Salons zu bilden, und Alles unter seine Einflüsse gerieth. Dr. Véron, als ein echter Bourgeois, der Esprit hatte, Salons öffnete und doch gern eine politische Rolle gespielt hätte, verkannte diese Zeit nicht, sondern gründete die Revue de Paris – jenes unglückliche Ding, welches nie recht leben und auch nicht sterben konnte, bis ihm der Zorn des Bonapartismus unlängst das Grab machte, weil der Fanatismus einiger Italiener die beste Gelegenheit bot, aus Frankreich noch mehr denn sonst einen Kirchhof zu schaffen. Die Revue de Paris war von Hause aus übrigens schon so wild und jugendlich-lustig, daß dem vorsichtigen Véron die Geschichte anfing bedenklich zu werden. Da er nicht die Natur besitzt, sich längere Zeit geduldiglich zu ärgern, so überließ er sie endlich der Partei des „National“, des republikanischen Journals, welches Armand Correl gegründet und Armand Marrast fortgesetzt hatte.

Véron hatte mindestens soviel durch sein Journal erreicht, daß man ihm den Pacht der Oper übergab, und vorläufig, da er vermeinte, man werde späterhin noch seiner Staatsweisheit bedürfen, begnügte sich der gute Doctor, dem ersten, aber herabgekommenen Theater von Frankreich zu präsidiren. Er that dies auch mit einem so unendlichen Glück, daß er ein kolossales Vermögen dabei erübrigte, worüber die verzweifelten Theaterdirectoren Deutschlands noch heute verwundert die Köpfe schütteln. Den Bourgeois Véron ließ jedoch der Ehrgeiz, eine politische Größe vorzustellen, nicht ruhen und überdies hat es etwas Qualvolles, ewig Theaterdirector zu sein – ein Amt, welches selbst eine gewisse Virtuosität im Komödiespielen bedingt. Der Doctor-Operndirector zog sich deshalb von der Herrschaft über die Sänger und Sängerinnen zurück, um so mehr, als er das gute Bewußtsein mit sich nahm, um eine halbe Million reicher geworden zu sein.

Von nun an – es war die Zeit, wo Louis Philipp in der größten Verlegenheit mit Staatsmännern war – verfolgte Véron nur das Ziel, ein Mann und ein Stern der Politik zu werden. In der Mitte der vierziger Jahre kaufte er daher den Constitutionnel, eines der größten Journale von Frankreich und damals als das Organ von Thiers von außerordentlichem Einfluß. Der Grund davon war sehr einfach. Véron konnte es dem genialen Berthin, dem mit Recht geehrten Besitzer und Leiter des alten Journal des Debats, nicht gönnen, daß er Pairs und Minister vermöge seines Einflusses gemacht habe. Ein solches Ansehen erstrebte Véron nicht minder, wenn ihm auch weniger daran lag, der Schöpfer von Pairs und Ministers zu sein, als vielmehr womöglich selbst einen solchen oder doch ähnlichen Platz zu erreichen. Als Director und Eigenthümer eines so bedeutenden Blattes, wie der Constitutionnel es war, und nebenbei als Freund und „College“ des Herren Thiers, glaubte er einen Gesandtenposten oder einen Sitz im Staatsrath als etwas ganz Natürliches ansehen zu müssen, von dem ihm, als grundgescheidtem Bourgeois, Eins oder das Andere nicht ausbleiben könne. Dem armen Véron ist dieser Wunsch nie in Erfüllung gegangen, und diese Kränkung hat er bis heute noch nicht vergessen, besonders Herrn Thiers, dem er trotz angeborner Gutmüthigkeit fortdauernd grollt.

Noch einmal faßte er Muth und Hoffnung, als die Geschichte sich änderte, und Louis Napoleon das Glück Frankreichs mit den sonderbarsten Mitteln herzustellen begann. Dr. Véron hoffte Alles von ihm, er lobte ihn, er pries Frankreich glücklich unter dem Scepter des einstigen Flüchtlings, und war eins der Werkzeuge Morny’s und Persigny’s, um den Staatsstreich von 1851 ausführen zu helfen. Solche Dankbarkeit, meinte Doctor Véron, könne nicht ohne Lohn bleiben – und sieh, Doctor Véron ward nicht belohnt, der Mohr hatte seine Schuldigkeit gethan, der Mohr konnte gehen.

Diese neue Kränkung verbitterte dem guten Doctor alle fernere Liebe für politische Carrière, zu der er jetzt auch schon zu alt und zu gewitzt ist. Er raffte sich in seinem Unmuth auf, fühlte sich groß als freier, reicher Bourgeois, und verkaufte seinen Constitutionnel für schweres Geld an Herrn Mirès, den größten Parvenü der heutigen Finanz-Bourgeosie. Als Bourgeois wollte Véron fortan leben und der Literatur sich dankbar erweisen, da sie doch immer liebenswürdiger gegen ihn gewesen war, als die Politik. Er ergriff das Handwerk der Mäcenas, und setzte Preise von 10,000 Francs für die Schriftsteller aus, gab literarische Banquette, und lebt noch heute in dieser sinnigen Beschäftigung, die selbstverständlich von Seiten der Schriftsteller sich der schmeichelhaftesten Anerkennung erfreut.

Als Bourgeois grollte er sich in den bekannten Memoiren gegen alle Diejenigen aus, die ihn in seinen politischen Hoffnungen betrogen, und die Seligkeit seiner Schriftstellerbeschäftigung athmet der Roman „das Haus Picard oder 500,000 Francs Rente.“ Der erlittene Undank über seine Mitwirkung am Staatsstreich förderte außerdem noch die Broschüre „Vier Jahre Herrschaft, oder wer sind wir?“ zu Tage, wo er durchblicken läßt, daß ohne Morny und Fould der Kaiser seinen Verdiensten Rechnung getragen haben würde. Aber Véron’s Groll ist harmlos und sein Bourgeois-Naturell so gesund, daß ihm trotz aller Enttäuschungen mindestens der gute Glaube geblieben ist, er sei eine literarische Celebrität.

Schmidt-Weißenfels.

Nicht zu übersehen!

Mit dieser Nummer schließt das 2. Quartal, und ersuchen wir die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das 3. Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1858, Seite 384. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_384.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)