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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Studentencomments. Diese ehrwürdigen „Häuser“ nun übernahmen es, die Nacht über in der Nähe der Gesellenherberge Wache zu halten, denn dorthin, dachten sie, müsse der Delinquent doch einmal kommen.

Und richtig, als im Osten schon der Morgen zu grauen begann, nahte der Gegenstand der Jenensischen Anregung still und leise sich der bekannten Herberge, um, von Angst und Müdigkeit ermattet, für einige Stunden der Ruhe zu genießen und den folgenden Tag eben so still und leise Jena „Adios“ zu sagen.

„Haben wir Dich!“ herrschten ihm die Bemoosten zu, als er eben im Begriffe stand, sich vor der Herbergsthüre bemerklich zu machen.

Ohne Gegenwehr ließ sich der Arme festnehmen und folgte ihnen wie ein Opferlamm auf die Polizei, die den Bemoosten in geziemenden Ausdrücken für ihre Vigilanz ihren Dank ausdrückte.

Als am Morgen Jena erwachte, hatte es die sorgenerleichternde Satisfaction, den Missethäter in den Händen der Polizei zu wissen, und die Hoffnung, daß das verübte Verbrechen auf eclatante Weise gesühnt werde.

Allein welche Täuschung! – als jene drei Helden im Verlaufe des Dienstags auf der Polizei sich erkundigten, wie es mit dem Delinquenten stehe, ob er eingestanden u. s. w., da hieß es, er sei nicht mehr da, man hätte ihn in der Besorgniß studentischer Excesse mit Verabreichung des Wanderbuches aus Jena verwiesen, d. h. laufen lassen!

„Also laufen lassen?!“ riefen unsere Drei wie aus einem Munde und ihre Gesichter verzogen sich ordentlich in die Länge. „Also laufen lassen – das ist unerhört – das ist abscheulich – das ist niederträchtig – das ist ein kolossaler Verrath an den heiligsten Interessen der Gerechtigkeit, der Menschheit und der Studentenschaft insbesondere; ja, das ist Verrath, Verrath, Verrath!“

Die Polizei hatte dieses Mal allerdings die Klugheit im Stiche gelassen; sie ließ den Missethäter frei fortziehen, um Excesse von Seiten der Studentenschaft zu verhindern, während es der letzteren mit all’ ihrem Aufwande von List um nichts anderes zu thun war, als ihn der Gerechtigkeit zu überliefern und den ordentlichen Gerichten ihren Lauf zu lassen. Durch jene Maßregel warf die Polizei geradezu den gefährlichsten Zunder in die kaum beschwichtigten Gemüther der Studenten.

Am Dienstag Nachmittag wurde kein Colleg besucht, dagegen war der Marktplatz wieder das große Auditorium und Conversatorium der Jenenser Studenten. Das juristische Prakticum über den obschwebenden Fall führte zur einstimmigen Verurtheilung der Polizei. Die Execution des Urtheils sollte noch an demselben Abend stattfinden.

Es mochte gegen neun Uhr sein, als auch unter meinem Fenster der verhängnißvolle Ruf „Bursch ’raus!“ erscholl und gleichzeitig einige Hausburschen auf mein Zimmer mit der Aufforderung stürzten, ihnen auf den Marktplatz zu folgen. Ich wußte nun zwar sogleich, daß ich jetzt mit dem ersten Schritt aus meinem Zimmer zugleich einen Schritt über die Grenzen des akademischen Gesetzes hinausthue; allein so bereitwillig ich sonst auch war, diesem Gesetze Folge zu leisten, so schämte ich mich jetzt, bei der allgemeinen und nicht grundlosen Aufregung dennoch, die feige Legalität vorzustellen und mischte mich willig unter die aufgeregten Massen des Marktes.

„Hast Steine?“ fragte man mich halblaut. Auf meine Verneinung füllte man mir die Taschen mit einigen Händen voll Kieselsteinen.

Noch wußte ich nicht, was dieser Abend bringen sollte, doch fing mir an eine grausige Ahnung aufzugehen und fast wollte es mich reuen, dem revolutionären Rufe gefolgt zu sein. Allein an eine Umkehr war jetzt nicht mehr zu denken; was Student hieß und sich in dieser ereignißschwangeren Stunde noch im Freien befand, das schloß sich, wie ein summender Bienenschwarm um die Königin, so an den Studentenknäuel auf dem Markte und die drei obenerwähnten bemoosten Bursche an. Es wurden nun Befehle ertheilt zum festen Zusammenhalten, und daß ja Keiner den Trupp – in seinem eigenen Interesse – verlassen sollte, – zur Vorsicht, Klugheit u. s. w.

Es war eine mondhelle Julinacht und die einzelnen Teilnehmer des beabsichtigten Attentats waren selbst auf größere Entfernung hin zu erkennen. Man wendete daher die Mützen, die Röcke, verband die Gesichter mit Taschentüchern u. s. w. und war, die Taschen reichlich mit Steinen gefüllt, zum Aufbruch bereit. Da wandelte von den Pedellen der größte im Mondschein daher und rief schon aus der Ferne:

„Im Namen des Prorektors – ich fordere … …“

„Pudel weg!“ riefen die Bemoosten; „Pudel weg!“ hallte der mächtige Chor den Versammelten nach und ein nicht zu verachtender Steinhagel sauste dem würdigen Amtsdiener um den Kopf.

Und jetzt hieß es „Vorwärts!“ Der unwiderstehliche Zug bewegte sich vom Marktplatze gegen das Polizeigebäude. Die Pedells bemühten sich nun in hastiger Eile, dem Schwarm so nahe als möglich zu kommen, ohne gesehen zu werden, um die Namen der Antheilnehmer ausfindig zu machen. Namentlich suchten dieselben bei der Mündung von Seitengäßchen in die Hauptstraße unbemerkt in die Nähe des Zuges zu kommen; denn vor und hinter demselben waren sie nur außerhalb der Tragweite des stärksten Steinwurfs sicher, und konnten natürlich von einer solchen Entfernung aus auch nicht eine einzige Gestalt erkennen. Aber auch die Mündungen der Seitengäßchen wurden durch vorausgesendete Plänkler vermittelst geeigneter Steinwürfe von unberufenen „Aufschnüfflern“ zeitig genug geräumt. Endlich durfte sich in keinem Zimmer der Straße, wo man vorbei kam, ein Licht blicken lassen. Wo es dennoch geschah, hieß es schnell und barsch: „Licht weg!“ und wenn nicht sogleich gehorcht wurde, so fuhr ein unbarmherziges Hagelwetter klingend und klirrend in die Fenster des widerspenstigen Hauses.

Vor dem Polizeigebäude wurde Halt gemacht. Dasselbe zeigte gegen die Straße eine breite, hohe Façade, regelrecht gebaut und, als ob die deutsche Polizei das Licht allein gepachtet hätte, mit vielen hellen Fenstern versehen. Wenn nun der geehrte Leser glaubt, die Studenten würden hier der Polizei wegen des bewußten Falles eine Strafrede halten oder ein Pereat bringen, so irrt er sich; man verfuhr viel summarischer gegen sie: nachdem sich die ganze Schaar auf sicherm Terrain wußte, vernahm man von einem vielbewährten Bierbaß das einzige Wörtchen: „Los!“ und aus hundert und aber hundert Händen flogen hundert und aber hundert Steine wiederholt gegen die polizeilichen Fenster; ein fürchterliches Geschmetter, Geklingel und Geklirre entstand und verschwand sogleich wieder: in der Zeit von kaum einer Minute war das Werk der Zerstörung vollbracht; das Polizeigebäude zeigte nur noch die leeren, nackten Kreuzstäbe.

Das hatte die fürsichtige Jenenser Polizei mit ihrer Maßregel zur Verhütung studentischer Excesse gewonnen!

Da nun dem Faß jugendlichen Uebermuths einmal der Boden ausgegangen war, so wollte man nicht auf halbem Wege stehen bleiben. „Vorwärts!“ hieß es weiter. Man zog durch die verschiedensten Straßen, um zu den verschiedenen Häusern zu gelangen, auf die es abgesehen war. Da und dort ließ sich ein Licht blicken, das dem bekannten Rufe nicht schnell genug Folge leisten konnte, und da und dort gingen en passant einige Fensterscheiben in Scherben, woran vorher weder Hauseigenthümer noch Studenten gedacht hatten.

Es ist eine alte Geschichte, daß bei allen Völkern, Nationen und Ständen die Amtsdiener, Schuldenboten und Executionsmänner u. s. f. im Allgemeinen in üblem Geruche stehen. Nicht anders ergeht es auch den Pedellen der Universitäten, die den Studenten so manche Freude verkürzen, so manchen lustigen Streich verderben und sie oft mit den allerunangenehmsten Nachrichten und Aufträgen behelligen müssen. Der Mensch ist nun einmal so, daß er selbst dem unschuldigsten Briefboten gram werden kann, wenn der Wechsel später ankommt, als er erwartet hat. Ein gleiches Schicksal hatten auch die Pedelle von Jena. Nachdem der Muth vor dem Polizeigebäude ausgelassen war, wurde noch ihren Wohnungen ein Besuch gemacht. „Los!“ – und wieder traf der furchtbarste Steinhagel die sämmtlichen Fenster des Oberpedells und dann nach kurzen Pausen diejenigen der übrigen Pedelle. Die Wohnungen von zwei in Mißgunst gefallenen Professoren, sowie einige in Verruf befindliche Bierhäuser machten dieselbe Erfahrung. Endlich – Mitternacht war schon vorüber – zog man in festgeschlossenen Reihen vor das Johannisthor, um dort das Weitere zu berathen. Unglücklicher Weise fiel es einem von uns noch bei, daß sich dort ganz in der Nähe das Haus des Universitätssecretairs befinde, eines Mannes, der sich nicht immer in den höflichsten Formen gegen die „Herren Studenten“ benahm. Ihm wurde die letzte Steinsalve gebracht.

Merkwürdig: während des großartigen, furchtbaren nächtlichen Excesses, ausgeübt von etwa dreihundert Studenten, die mit nichts anderm als Steinen bewaffnet waren, hatte sich die ganze Bürgerschaft Jena’s mit all ihren Behörden und Polzeidienern in die tiefste Ruhe gehüllt, ja in die hintersten Winkel verkrochen, und unangefochten

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