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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

und hierauf mit gekreuzten Armen neben dem Bugspriet sich niedersetzend, sagte er:

„Da leuchtet Knudshorn; wir können noch einen halben Strich zu Ost halten.“

„Geht an,“ erwiderte Taken Mannis, „in einer Stunde ist Hochwasser, und so laufen wir gerade mit der Fluth auf’s Hooger Schlütt[1] zu.“

Die Schiffer kehrten vom Fischfange zurück. Es waren Bewohner von Hooge, jener Hallig, die schon längst durch ihre Kirche und ihre hoch ragenden Gebäude über dem Meere und den weißen Sanden, die daraus hervorschimmerten, sichtbar war. Von dem Lande selbst konnte man nichts sehen. Die Flügel der Windmühle schlugen, so schien es, bald in die fahlblaue Luft, bald tauchten sie nieder in die grauen kargen Wogen.[2]

Jetzt versank die Sonne im Meere. Die Wellen gingen höher und brachten auf den überflutheten Sandwatten jenes sausende Geräusch hervor, das für Seefahrer ein steter Warnungsruf ist. Das Jap war beinahe ganz mit weißem Brandungsschaume bedeckt. Es schien, als koche die See, so sprühte und brodelte auf dem unübersehbaren Sande die Fluthwelle.

Da der Wind gleichzeitig lebhafter ward, sahen die Segelnden außer dem hohen Dünenzuge von Amrom und den steilen, kegelartig gestalteten Wohnungen auf Hooge, Nordmarsch und Langeneß oft nichts, als ein graues, wallendes Meer. Nur zuweilen, wenn der Ewer von einer breiteren Welle emporgehoben ward, entdeckten sie den braunrothen Stumpf der alten Kirchenruine auf der Insel Pellworm.

Die Sterne funkelten bereits durch leichte Haufenwolken, als der Ewer in das Schlütt einlief. Hier war das Wasser ruhiger, die Wellen wurden kürzer und bald lag das Fahrzeug fest vor Anker. Nah und fern glänzten Lichter, die in der Luft zu schweben schienen. Ueberall blökten Schafe, dazwischen hörte man das Gebrüll von Kühen. Menschen sah man nirgends am flachen Rand des Schlütt, in dessen schlammiger Einfassung Sumpfgevögel Geschrei ausstieß und unruhig hin und wieder flatterte.

Nachdem die beiden Männer ihre Netze und andern Geräthschaften an’s Land geschafft hatten, wobei das Mädchen ihnen hülfreiche Hand leistete, schlugen sie einen kaum sichtbaren Fußpfad ein. Er führte durch äußerst kümmerlichen Graswuchs und über sehr holprigen Boden nach einer Warft, die in der nächtlichen Dämmerung einem breiten Berge glich, dessen Gipfel eine vielgethürmte Ritterburg mit seltsam geformten Zinnen und Spitzen trug. Am Fuße der Warft verlor sich das Phantastische dieses Anblicks. Es zeigte sich nichts mehr und nichts weniger, als ein nach friesischer Art gebautes Haus mit sehr steilem und hohem Dach. Daneben eine Scheuer oder Vorrathshaus von gleicher Construction, und mehrere konisch geformte Heuschober, aus denen das Ende noch höherer Stangen emporragte. Am Abhange der breiten Warft sprangen angepflöckte Schafe, fortwährend melancholisches Geschrei ausstoßend, an ihren Ketten und Stricken.

„Seid Ihr’s, Jens und Taken?“ rief jetzt von der Höhe der Warft eine etwas heisere Stimme herab, und ein hoher, breitschultriger Mann ward sichtbar auf den Stufen, die zu dem Hügel hinaufführten. „Habt sicher wenig gefangen.“

„Wenn Du willst, nichts, Vater,“ erwiderte Jens, der Jüngere, „umsonst aber war unsere Fahrt doch nicht, ’s ist uns ’was Merkwürdiges passirt.“

Nicol Mannis, ein alter Halligmann, war inzwischen die Warft schon die Hälfte hinabgestiegen und begrüßte zuerst das junge Mädchen, das ihm mit schnellen Schritten entgegen lief. Sie hatte die Brüder begleitet, nicht weil es nöthig war, sondern aus Neugierde. Lange war es ihr Wille gewesen, einmal mit auf den Fischfang zu gehen.

„Friert Dich, Karen?“ redete der Vater sein Kind an, als er die kalten Hände der leicht Zitternden ergriff, die ihn herzlich umarmte.

„Es mag wohl sein, Vater,“ versetzte Karen, „obwohl ich nichts merke von Kälte.“

„Aber Du zitterst.“

„Das macht die Angst,“ warf Taken, der ältere Bruder ein,

„Angst?“ wiederholte mißbilligend Nicol Mannis, „Eine Halligtochter kennt keine Angst, ’s müßt’ nicht mein Kind und Euere Schwester sein, wenn sie Angst hätte. Nicht wahr, lütt[3] Karen?“

„Ich hab’ mich auch nur verfehrt,“[4] sagte das Mädchen, an der Hand des Vaters, der seinen linken Arm schützend um sie schlang, die Warft vollends hinaufschreitend.

„Verfehrt?“ wiederholte Nicol Mannis in noch verwunderterem Tone. „Habt Ihr fest gesessen auf einem der Gründe?“

„Dann würde unser Ewerschiff jetzt schwerlich geborgen im Schlütt liegen,“ erwiderte Taken. „In der Außensee wehte es frisch den ganzen Tag und hätten wir uns festgesegelt, so wär’ jetzt gewiß keine Planke mehr ganz an unserm Fahrzeuge. Ich sagt’s ja schon, ’s ist uns ’was passirt.“

„Was?“ fragte Nicol Mannis gebieterisch, auf der obersten Stufe des Warft stehen bleibend und sich umkehrend zu seinen Söhnen. Er hielt die schlanke, hoch gewachsene Tochter fest umschlungen und seine mehr harten als milden Züge blickten streng auf die Söhne.

„Du sollst es gleich erfahren,“ sagte Jens, „bring’ nur lütt Karen erst unter Dach.“

Nicol Mannis verharrte noch einige Augenblicke in seiner Stellung, das Antlitz dem Meere zugekehrt, auf das jetzt die Schatten der Nacht immer dichter herabsanken.

„Die Fluth leuchtet,“ sagte er dann, die Hand nach Westen ausstreckend. „Seht dort! Es sprüht über dem Watt gegen Norderoog, als spielten die Nixen und Meerweiber mit ihrem Geschmeide. ’s wird eine steife Kühlte geben die Nacht.“

Ein scharfer Windstoß fuhr über den Kopf des alten Mannes und zerzauste seine grauen Haare. Lauter schlug die Brandung an das flache Gestade der Hallig und ein dumpfes Rollen verklang über dem dunkeln, nur hier und da von mattem Schimmer durchleuchteten Meere.

Alle traten in die gegen Südost sich öffnende Thür des geräumigen Wohnhauses, auf dessen Flur jetzt, eine Lampe in der Hand, die Mutter erschien und den heimkehrenden Kindern freundlich zunickte.




II.
Auf der Warft.

Nicol Mannis war früher Seemann gewesen. Auf seinen jahrelangen Reisen hatte er sich ein artiges Vermögen verdient, das er nun, wie dies uraltes Herkommen bei allen Uthlandsfriesen ist – so nennt man gewöhnlich sämmtliche Bewohner des Archipelagus der Westsee – auf seiner heimathlichen Hallig in Ruhe verzehren wollte. Der wetterharte Seemann entschloß sich indeß erst zu diesem Schritte, als er das Schiff, das unter seinem Commando stand, in einem fürchterlichen Sturme auf dem atlantischen Meere verloren hatte und bei dieser entsetzlichen Katastrophe wie durch ein Wunder gerettet worden war. Dies letzte Erlebniß während seiner Seereisen, von dem er selten sprach, mußte von grauenvollen Vorgängen begleitet gewesen sein. Wenigstens war Nicol Mannis, ein Mann von kaltem Blut und unerschrockenen Herzens, seit jenem traurigen Erlebniß auffallend alt geworden. Glücklich auf Hooge gelandet, verließ er die Hallig nicht mehr. Er lebte in jener geschäftigen Unthätigkeit, die man häufig bei alten Seeleuten findet und die meistentheils nur in einem Betrachten des Meeres, einem Beobachten von Wind und Wolken, in rastlosem Auslugen nach jedem Stückchen Leinwand, das am fernen Horizonte sichtbar wird, besteht.

  1. Seichte Fahrrinne an den Halligen.
  2. Zu besserem Verständniß binnenländischer Leser sei hier bemerkt, daß die „Halligen“ kleine, nur spärlich bevölkerte Inseln in der sogenannten Westsee sind, wie von den Seefahrern der Theil der Nordsee genannt wird, welcher von der Mündung der Eider nordwärts bis an die Grenzen Jütlands die Küsten Schleswigs bespült. Die „Halligen“, gegenwärtig noch 15 an der Zahl, sind Ueberreste der im Jahre 1634 durch eine furchtbare Sturmfluth zertrümmerten Insel Nordstrand. Sie erheben sich nur wenige Fuß über die Meeresfläche und sind durch keine Deiche gegen die Wuth der Stürme und des Wogendranges geschützt. Daher werden sie bei jeder Sturmfluth von dem Meere überfluthet. Um gegen diese immer wiederkehrenden Fluthbedrängnisse sich zu vertheidigen, führen die Halligbewohner künstliche Hügel, „Warften“, auf und bauen auf diese ihre in der Regel sehr stattlichen Häuser.
    Der Verfasser. 
  3. Lütt: klein, häufig gebrauchtes Schmeichelwort.
  4. Erschreckt.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 330. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_330.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)