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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Was Alles sollte ich in diesem Räume noch mehr entdecken? War hier wirklich ein Mord begangen? Lag der Leichnam des Ermordeten wirklich unter diesem Parket? War die Mörderin mir zur Seite? Stand sie auf der Stelle, wo sie ihr Verbrechen verübt hatte? Ueber der Gruft, die ihre Unthat verbarg? Wie lange sollte sie diese noch verbergen? Mußten nicht alle Nerven, alle Muskeln, alle Glieder an dem Körper der Unglücklichen zittern, mußte nicht Todesangst, die Todesangst der Entdeckung, ihren Körper durchrieseln, lähmen, wenn sie wirklich auf dem Schauplatze ihrer That, auf der Gruft des Ermordeten stand, an ihrer Seite der Criminalrichter, der Vorläufer des Nachrichters? Des Richters Vetter heißt der Scharfrichter in den alten deutschen Urkunden.

Ein einziges Bret dieses dünnen Parketbodens aufgehoben und der Mord war entdeckt und der Criminalrichter hatte die Verbrecherin erfaßt, um sie dem Nachrichter zu überliefern.

Und sie wußte das!

Sie hatte sich von ihrem Schreck erholt. Aber zu etwas Anderem, als desto klarer ihrer fürchterlichen Lage sich bewußt zu werden? Konnte sie noch einen Zweifel darüber haben, daß ich, wenn auch nicht Kenntniß, doch dringenden Verdacht ihres Verbrechens habe, und daß ich hergekommen sei, die volle Kenntniß mir zu verschaffen?

Und so war es. Sie verfolgte jeden meiner Blicke, jede meiner Bewegungen mit einer Spannung, welche zeigte, wie wohl sie wußte, daß ihr Leben, ihr Tod in meiner Hand liege.

Ich war mitten in dem Zimmer stehen geblieben. Sie stand mit jener meine leisesten Bewegungen verfolgenden Spannung neben mir. Noch ängstlicher schien sie zu erwarten, was ich ihr sagen werde.

„Fräulein,“ begann ich, „ich will Sie hier nicht ferner mit meinen Fragen quälen und werde Ihnen nur noch eine Geschichte erzählen, aber eine traurige, eine schreckliche. Ob auch eine wahre? Sie werden, wenn ich sie Ihnen erzählt habe, sich überzeugen, daß ich jeden Augenblick ihre Wahrheit feststellen kann, daß ich nach meiner unerläßlichen Amtspflicht es aber auch muß.“

Ein Zittern flog bei diesen einleitenden Worten wieder durch ihren Körper. Sie antwortete nichts, sondern hatte den Blick zu Boden geheftet.

Ich fuhr fort:

„Die Geschichte hat sich hier zugetragen, in diesem Schlosse, theilweise in diesem Zimmer.“

Sie zuckte zusammen. Ihr Auge erhob sich unwillkürlich mit einem Blicke der Angst zu mir empor; aber nur den zehnten Theil einer Secunde lang.

„Ja, mein Fräulein, in diesem Zimmer. Hier war die Katastrophe.“

Sie zitterte heftiger.

„Ein junger Mann war in dieses Schloß gekommen; ein herzloser, roher Wüstling.“

Ihre Augen, die ich nicht von meinen: Blicke befreite, irrten unsicher umher.

„Er verfolgte mit schlechten, ehrlosen Anträgen eine junge Dame, die auf Tugend und Ehre hielt.“

Auf ihrer schönen, schneeweißen Stirn glänzten Schweißtropfen.

„Er drang bis in ihr Zimmer.“

Sie zitterte so heftig, daß sie sich nicht mehr aufrecht halten konnte. Ich führte sie zu einem Stuhle, der in der Nähe stand, ließ sie darauf nieder und blieb selbst vor ihr stehen. Ich handelte grausam gegen das arme Geschöpf; das Herz that mir weh, daß ich so handelte; aber ich mußte es. Hätte ich sie in gewöhnlicher Weise ausfragen wollen, ich hätte sie noch weit länger, weit mehr martern müssen; der furchtbare Kampf zwischen beharrlichem Leugnen und endlichem Geständniß wäre für sie ein weit anhaltenderer, ein weit ergreifenderer gewesen. Aber so kam ich ihrer besonderen Natur entgegen und nach heftigem, aber kurzem Kampfe mußte mit einem Male das Geständniß aus ihr voll hervorbrechen, ihre Brust erleichternd und – ihren Kopf unter das Beil des Henkers legend. Und gestehen mußte sie; die Gerechtigkeit forderte es.

Und, glaubt mir, liebe Leser, nicht blos die menschliche, auch die ewige, göttliche Gerechtigkeit, ja, die göttliche Barmherzigkeit, die göttliche Gnade fordern es.

Der Mensch, der ein wirkliches Vierbrechen in seiner Brust, allein in seiner Brust zu verschließen weiß, ohne einer Mittheilung an Andere, ohne des Trostes, der Erhebung durch Andere, ohne der Sühne durch die Strafe zu bedürfen, er hat in seiner Brust keine Reue, und wenn er sie auch sich und Gott heuchelt, sein Herz bleibt verstockt, hart, er kann keinen Antheil an – doch nein, wie kann der Mensch sich unterfangen, bestimmen zu wollen, wem die unerschöpfliche göttliche Barmherzigkeit nicht zu Theil werden könne?

„Er drang bis in ihre Zimmer,“ wiederholte ich. „Sie suchte vergeblich, sich seiner zu erwehren. Sie bat, sie flehete, sie drohte. Umsonst!“

Ihr Gesicht glich kaltem, nassem Marmor.

„Da ergriff sie den Dolch –“

„Halten Sie ein,“ rief sie plötzlich.

War der Moment schon da, ich welchem ihr Geständniß hervorbrechen mußte? Noch nicht; noch kämpfte sie mit der starken Liebe für das Leben.

Ich sah sie fragend an. Sie senkte die Augen nieder. Ihr ganzer Körper bebte fast convulsivisch; ihre Brust wogte; aber sie schwieg. Noch konnte sie nicht sprechen. Ich mußte fortfahren.

„Da wurde hier ein schweres Verbrechen verübt; hier an dieser Stelle. Dann ergriff die Verbrecherin Todesangst. Aber sie mußte die Spuren ihres Verbrechens vertilgen. Auch das geschah hier.“

Ihre Blicke waren wild, wie in einem wilden Wahnsinne, durch das Zimmer geflogen. In der dunkleren Ecke hinter der Thür, die aus ihrer Schlafstube führte, schienen sie auf einmal wie durch einen Zauber festgebannt zu sein. Ich schritt zu der Ecke hin.

„Hier,“ sagte ich, „an dieser Stelle, unter diesen Bretern.“

Sie war aufgesprungen, stürzte auf mich zu und ergriff krampfhaft meine Arme, um mich festzuhalten, daß ich jene Stelle nicht betreten solle.

„Nein, nein!“ rief sie. „Ich beschwöre Sie!“

Es war ein furchtbarer Schrei; es war der Schrei der Todesangst. Sie fiel vor meinen Füßen nieder. Ich wollte sie aufheben, aber sie umklammerte fest meine Kniee.

„Lassen Sie mich sterben; ich kann nicht mehr leben. Tödten Sie mich. Seien Sie barmherzig! Hier! Hier, an derselben Stelle!“

„Stehen Sie auf,“ sagte ich zu ihr. „Fassen Sie sich, denken Sie jetzt nicht an Ihren Tod; denken Sie an Ihr Gewissen, an die Gerechtigkeit, an den Gott der Gerechtigkeit, vor den der Mensch, wenn er Barmherzigkeit von ihm will, nur mit Reue, nur versöhnt treten darf.“

Meine Worte erhoben sie. Sie war in ihrer fürchterlichen Todesangst einer Erhebung fähig. Ihr Herz mußte zugleich muthig und edel sein.

Sie stand auf. Ich führte sie zu dem Stuhle zurück, auf den ich sie vorhin niedergelassen hatte. Ich setzte mich neben sie; sie faßte um so leichter Vertrauen zu mir.

„Theilen Sie mir Alles mit, denn einmal muß es geschehen. Sie müssen Ihr Herz von der entsetzlichen Last befreien, die es erdrückt.“

Sie hatte sich gefaßt; sie wollte mir antworten. Sie warf schon jenen Blick des besseren, freieren Gefühls auf mich, mit dem der Inquisit, nachdem aller Trotz und alle eitle Menschenfurcht in ihm gebrochen ist, nur der erhabenen Stimme des Gewissens folgt und sein offenes, freies Bekenntniß ablegt.

Aber noch einmal konnte sie nicht. Ein Strom von Thränen stürzte aus ihren Augen.

„Lassen Sie mich erst ausweinen,“ bat sie.

Die Vergangenheit war wohl plötzlich vor sie getreten. Ich ließ sie ausweinen. Die Thränen konnten ja nach allen Seiten nur wohlthätig auf sie einwirken. Sie weinte lange; über ihr Leben, über ihr vergangenes, über ihr verlorenes Leben.

In diesem Augenblicke mußte Alles vor sie treten. Ihre fröhlichen Kindertage, ihre glückliche Jugend, oder war auch diese schon unglücklich gewesen? Sie war noch so jung und mußte, fern von der Heimath, fern von allen ihren Lieben bei fremden Menschen, in fremdem Lande dienen. Und in diesem fremden Lande, in dem sie allein, ohne Schutz, ohne irgend einen Bekannten, so ganz allein da stand, war sie zur Verbrecherin geworden. Niemand, Niemand, der ihr nur helfen, der ihr nur rathen konnte, war bei ihr. Und wenn sie auch die fernen Lieben hätte herbeirufen können, hätte sie es gedurft, gemocht? Die arme, vielleicht selbst schon unglückliche Mutter, die unschuldigen Geschwister, sie, die sie Alle so liebten,

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