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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Nahrung gegeben. Das Trinkwasser fand ich gesund und wohlschmeckend. Alles ist vortrefflich, aber eins fiel mir auf, daß nämlich die Kinder, sobald sie einigermaßen unwohl oder krank sind, in eine andere Abtheilung, in das sogenannte Krankenhaus, gebracht werden, somit der Beobachtung ihrer Pfleger entzogen und der Beaufsichtigung fremder Wärter, die mit ihren Eigenthümlichkeiten nicht vertraut sind, allerdings unter Oberaufsicht des Arztes, übergeben werden. Gerade in diesen Fällen, meine ich, ist die Beobachtung dieser Kinder recht ergiebig, der Erzieher sollte sich daher dieser mit Sorgfalt unterziehen können. Die Schuld hierzu trägt die Verbindung dieser Anstalt mit den anderen Anstalten und es wäre wohl zu wünschen, daß dieses Institut, zumal wenn es sich weiter vergrößern sollte, von den übrigen Anstalten getrennt und gleich den Blinden- und Taubstummeninstituten für sich allein verwaltet würde. Bei der Wahl eines neuen Ortes könnte dann auch eine höher gelegene Gegend, die doch immer für diese Anstalten sehr wünschenswerth ist, ausgesucht werden. Sehr passend dürfte z. B. das Schloß Augustusburg hierzu sein.

Nachdem mich die Herren mit allen das somatische Heilverfahren betreffenden Einzelnheiten bekannt gemacht, hatten sie die Güte, mir den Gang ihres Lehrverfahrens in lebenden Bildern, d. h. indem sie mir ihre Schüler speciell vorführten, zu zeigen. Erziehungsgrundsatz Herrn Gläsche’s ist: „Wir suchen in unsern Pfleglingen so oft als möglich das Gefühl der Freude zu erregen, weil sie in solchen Augenblicken am empfänglichsten für unser Wirken sind.“ Ein Satz, der genugsam den Erziehungsgeist, welcher in dieser Anstalt herrscht, charakterisirt. Basis des Unterrichts ist stets und immer die Anschauung. Es gilt daher zuerst, ich erlaube mir hier Herrn Oberlehrer Gläsche wörtlich zu folgen, die Sinne des Kindes zu üben, damit es anschauen lerne, und zugleich den Thätigkeitstrieb, der auf dieser Stufe fast durchgängig als Nachahmungstrieb auftritt, einigermaßen anzuregen. Die Herren verfuhren hierbei auf folgende Weise. Es wurde einem auf dieser Stufe stehenden Individuum eine kleine, glänzende, hellklingende Glocke vorgehalten. Durch den Glanz und das Tönen derselben wurde das Auge und Ohr des Kindes, wenn auch nur auf wenige Augenblicke, gefesselt. Dasselbe Experiment wurde mit einer Repetiruhr, einem Glase wiederholt. Eine schwere Kugel und bunte Bälle wurden auf dem Boden hingerollt und das Kind veranlaßt, dasselbe nachzuahmen. Einfache Körperbewegungen, Aufstehen, Setzen, Legen, die Hand reichen, wurden vorgenommen. Auf der Violine und dem Pianoforte wurden einzelne Töne und stark in’s Gehör fallende Melodien angegeben. Bei alledem war die Sprache der Herren Lehrer kräftig markirt. Alles dies wurde vorgenommen, um das Gesicht und Gehör des Kindes zu fesseln und um seine Willensthätigkeit anzuregen. Am meisten wirkte die Musik auf diese Armen. Auch die Augen sehr tiefstehender Kinder verklärten sich, sie fanden sich veranlaßt, das Instrument, dem diese Töne entlockt wurden, zu suchen und zu betasten. Wie ich hörte, versucht man auf dem Abendberg in der Schweiz das Auge der Cretinen dadurch zu fesseln, daß man dieselben in ein dunkles Zimmer führt und vor ihren Augen mit Phosphor Figuren an die Wand malt.

Durch ähnliche Uebungen gelingt es nach vielen Mühen und längerem Zeitaufwande, wenigstens bei Einigen die Sinne und die Willensthätigkeit so weit zu wecken, daß das Kind durch wiederholtes Anschauen der Dinge zu Vorstellungen von denselben gelangen kann. Herr Oberlehrer Gläsche führte mir einige auf dieser zweiten Stufe stehende Kinder vor. Sie waren durch wiederholtes Anschauen der schon genannten Dinge im Stande, Uhr, Glas, Glocke, Kugel, Klavier etc. zu unterscheiden, und brachten diese Gegenstände auf mein Verlangen herbei. Den Erfahrungen der Herren Lehrer zufolge, lernen die Kinder auf dieser Stufe Vorstellungen von den Gegenständen ihrer nächsten Umgebung, ihres eigenen Körpers gewinnen. So gelangt das Kind zur dritten Stufe. Es wird fähig, die gewonnenen Vorstellungen zu combiniren, und gelangt dadurch zu Begriffen. Man zeigte den auf dieser Stufe stehenden Knaben Bälle, Kugeln, Tische etc. von verschiedener Größe, Farbe und Gestalt, um die Kinder das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheiden zu lassen. Die Knaben waren im Stande, Befehle auszuführen, wie: „Leg den Stab auf den Tisch! – Trag die Glocke auf das Fenster! – Stelle die Glocke an die Wand! – Trag die Bürste auf die Bank und bring’ den Ball her!“

Auf diese Weise, indem man den Kindern nach und nach drei- oder vierfache Befehle ertheilt, sucht man ihre Willensthätigkeit, ihre Auffassungskraft, ihr Gedächtnis; zu stärken und zu vervollkommnen. Leichte Turnübungen, die schon auf der ersten Stufe ihren Anfang genommen, wurden auf dieser Stufe eifrig fortgesetzt. Das Kind findet nun sich selbst, denn es versteht jetzt auch solche Aufträge, als: „Komm her! – Stell dich an die Thür!“ Es ist nunmehr im Stande, sein Ich von der Umgebung zu trennen. Welche Freude für den Erzieher, wenn er sein Werk so weit gefördert hat!

Auf der vierten Stufe lernt das Kind abstrahiren. Herr Gläsche brachte eine Anzahl gut colorirter Bilderbücher herbei. Die auf dieser Stufe stehenden Individuen waren im Stande, das erst in Wirklichkeit Angeschaute auch im Bilde unterscheiden zu können. Sie zeigten mir auf den Abbildungen Stuhl, Tisch, Uhr, Glas etc., versuchten dies auch nachzumalen und fingen an, die Buchstaben, die doch nur gemalte Laute sind, kennen und schreiben zu lernen. So bereiten sich Lese-, Zeichen-, und Schreibeunterricht vor.

Nun verwenden die Herren alle Mühe darauf, daß das Kind sprechen lerne. Die auf dieser fünften Stufe vorgenommenen Uebungen ähneln denen, die in den Kindergärten mit vollsinnigen Kindern ausgeführt werden. Schon bei den vorhergehenden Uebungen fand ich, daß Herr Gläsche die Kinder zum Nennen der Gegenstände anleitete. Jetzt war dies Hauptsache. Die Knaben müssen einfache Sätze: das ist ein Tisch – der Tisch ist rund et. aussprechen. Da vielen dieser Kinder das Sprechen schwer fällt, manche sogar stumm zu sein scheinen und zum Theil auch wirklich sind in Folge mangelhafter oder gelähmter Sprachwerkzeuge, so hat sich Herr Gläsche einige Zeit sowohl im Dresdner, als auch im Leipziger Taubstummeninstitute aufgehalten, um die dortigen Unterrichtsweisen kennen zu lernen und dieselben für seine Zwecke benutzen zu können.

Das Kind ist nun nach vielen Mühen und nachdem es manchen seiner Genossen zurückgelassen hat, zur sechsten Stufe gelangt. Es wird nun fähig, mit Nutzen am Elementarunterricht der Volksschule Theil nehmen zu können. Herr Oberlehrer Gläsche hielt mit den auf dieser Stufe stehenden Knaben kleine Unterredungen über verschiedene, theils in Wirklichkeit, theils im Bilde vorhandene Gegenstände. Die Knaben vermochten in einfachen Sätzen dieselben nach Stoff, Ort, Theilen, Farbe, Gebrauch zu beschreiben. Der Unterricht in der Naturgeschichte, in der Geographie bereitet sich hier vor, eben so der im Rechnen, indem die Kinder die Zahl der Augen, der Füße des gezeigten Thieres etc. angeben. Als Gedächtnißübungen hatte man mit den Kindern kleine verständliche Verschen und Liederchen mit ihren Melodieen eingeübt. Hierbei wurden besonders die Fröbel’schen Spiellieder benutzt. Diese Gesanges- und Spielübungen bilden nach Herrn Gläsche’s Ausdruck „die Lichtblicke in seinem Unterrichtsleben.“ Da thaut Herz und Seele seiner Zöglinge auf. Die Armen fühlen ihr Unglück nicht, sie singen fröhlichen Sinnes, wie vollsinnige Kinder: „Freut euch des Lebens.“ Die Willenskraft sucht man durch fortgesetztes Turnen zu steigern, und nun tritt auch der nächste Zweck der Anstalt, die Kinder erwerbsfähig zu machen, mehr hervor. Man benutzte die Kinder zu leichten Hausarbeiten, zum Holzmachen, zu Gartenarbeiten; auch verfertigten sie hübsche Pappsachen, und hatten durch einen geschickten Meister wöchentlich mehrere Male Anleitung zur Korbmachern. Ich freute mich über die Geschicklichkeit, die viele der größeren Knaben bei dieser Beschäftigung zeigten. Nach jahrelangen Mühen und Arbeiten haben die Lehrer das Kind so weit geführt, daß sie ihrem Bildungswerke die Krone aufsetzen können, indem sie seine religiös sittliche Bildung genauer in’s Auge fassen. Zwar hat die Bildung des sittlichen Gefühls schon längst begonnen. Die sorgsamen Lehrer haben alle Gelegenheiten, die das Zusammenleben der Kinder, das Weihnachtsfest, Geburtstage, Spaziergänge, Erscheinungen in der Natur (Sonnenauf- und Niedergang, Gewitter) u. s. w. darbieten, benutzt, um das Gemüthsleben der Kinder zu wecken und ihnen Freude an der schönen Natur, Dank gegen den guten Gott und gegen die Menschen, Gefühl für Recht und Unrecht einzupflanzen. Nun aber beginnt der eigentliche Religionsunterricht.

Dieser gründet sich, wie schon aus dem Vorhergesagten folgt, auf

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 163. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_163.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)