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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

spindeldürre lange Gestalt von erdfahlem Ansehen, mit langem grauen Haar und in einen Knappenkittel der gewöhnlichsten Art gekleidet, zeigt sich plötzlich in der Ferne und verschwindet im Nu, oder flattert gespenstisch schnell an ihnen vorüber. Die Erscheinung trägt ein matt brennendes Grubenlicht, und ein eisgrauer Hauch geht von ihr aus. Da sie zuweilen bald mit leiser, unheimlicher Stimme den Ring fordern, bald schauerlich heulend danach verlangen soll, ja, da sogar behauptet wird, der Geist Schönebeck’s habe sich mehr als einmal Nachts in seinem Hause gezeigt, und von der Frau den Ring geheischt, so ließe sich annehmen, das berüchtigte Schachtgespenst sei Schönebeck selbst, nicht sein Geist, sondern der lebende Mann, zumal, wie ich Ihnen vorhin schon bemerkte, seine Leiche nie aufgefunden worden ist. Dem aber steht entgegen: wie sollte sich ein Mensch zwanzig Jahre lang in diesen alten, dumpfen, feuchten, ungesunden Bergbauten aufzuhalten vermögen? und er muß doch essen und trinken, Kleider haben; ja ein vornehmer Mann, wie Herr von Schönebeck, hat noch eine Menge anderer Bedürfnisse. Woher hätte ihm eine so lange Zeit die Befriedigung derselben kommen sollen? Hier sind überall schwere unauflösbar scheinende Räthsel, wohin wir uns auch wenden. Hoffen wir, daß die nächste Zeit sie dennoch lös’t.“

(Schluß folgt.)




Ein Besuch in Hubertusburg.
Zweiter Artikel.
Eintritt in das Erziehungsinstitut für Schwach- und Blödsinnige. – Erste Eindrücke. – – Innere und äußere Einrichtung der Anstalt. – Der Gang des Lehrverfahrens. – Erziehung der Blödsinnigen von der ersten Uebung der Sinne bis zum Schulunterricht. – Oberlehrer Gläsche. – Ein Leichenzug.

Der Friedenssaal, jetzt bewohnt von Hospitaliten.

Wir traten in das Institut ein. – Dem Leiter desselben, Herrn Oberlehrer Gläsche, vorgestellt, lernte ich in ihm einen ebenso liebenswürdigen, wie für seinen Beruf hochbegeisterten Mann kennen. Ohne Weiteres führte er mich in das Aufenthaltszimmer der Kinder, an welche soeben das Frühstück vertheilt wurde. Ein erschütternder Anblick, die Menschennatur in ihrer tiefsten Verkommenheit zu sehen. Da saßen oder standen etwa vierzig der unglücklichsten aller Kinder. Die meisten zeigten einen fast thierischen Appetit, gierig verschlangen sie ihr Butterbrod; einige versuchten sogar, nachdem sie ihre Portion verschlungen, ihren langsamer essenden Nachbarn das Brod zu entreißen. Auf einem Fenster lag ein Stück Seife, plötzlich ergriff es ein Knabe und verzehrte es, ehe er daran verhindert werden konnte, mit dem größten Behagen.

Herr Oberlehrer Gläsche theilte mir mit, daß der Appetit mancher seiner Zöglinge oft ein so abnormer sei, daß sie Alles, was ihnen vorkäme, selbst die ekelerregendsten Sachen, mit demselben Wohlgefallen verzehrten, wie genießbare, wohlschmeckende Gegenstände. Mein fremdes Gesicht hatte die Aufmerksamkeit der Meisten erregt. Viele kamen auf uns zu, liebkosten ihren Lehrer, zu dem sie eine rührende Anhänglichkeit zeigten, und fragten mich auch, wie ich heiße und woher ich komme. Besonders erregten meine Brille und glänzende Uhrkette ihre Aufmerksamkeit. Die Stumpfsinnigsten unter ihnen zeigten dagegen auch nicht den entferntesten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 161. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_161.jpg&oldid=- (Version vom 9.10.2020)