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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

No. 4. 1858.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Der Kranken-Engel.
Novelle von Max Ring.
(Fortsetzung.)


Erleichtert trat Jadwiga ihren Rückweg an, während das Fräulein zu den Herren zurückkehrte, mit dem festen Entschlusse, den Baron um die Begnadigung des Gefangenen zu bitten. Pawel war ihr nicht unbekannt; sie hatte ihn als Knaben öfters gesehen, wenn er seine Schwester, die damals noch als Magd auf dem Schlosse diente, besuchte. Er war immer so freundlich und aufmerksam gegen sie gewesen. Für sie war er einmal auf den alten Birnbaum geklettert, um die von ihr gewünschten Früchte herabzuholen. Ein Ast brach und er fiel herab, wobei er sich den Arm verrenkte. Damals verbiß er muthig seine Schmerzen, als er sie weinen sah. Seit jener Zeit bestand eine gewisse Freundschaft zwischen dem armen Bauernburschen und der Tochter des Barons. Ihre lange Abwesenheit und der Unterschied der Lebensstellung hatten allerdings jene Jugenderinnerung fast verwischt; jetzt aber trat das Bild des treuen Pawel wieder lebendig vor ihre Seele. Sie wartete, bis die Partie zu Ende war, und die Herren sich empfohlen hatten. Als der Baron sich ebenfalls anschickte, zu Bette zu gehen, brachte sie ihr Anliegen in ihrer herzgewinnenden Weise vor. Sie übte eine gewisse Herrschaft über den rohen Vater aus und verstand es, seine schwachen, oder vielmehr guten Seiten mit weiblicher Feinheit zu benutzen.

Indem sie ihm den Schlafrock und die Pantoffeln holte, wie er es liebte, bat sie zugleich für den Delinquenten. Der milde Schein der Nachtlampe beleuchtete ihr frommes Gesicht, sie glich dem Engel der Gnade, der nicht will, daß der Sünder zu Grunde geht. Ein eigener Zauber umschwebte sie, so daß der rauhe Mann unwillkürlich weicher gestimmt wurde. Er mochte wohl in diesem Augenblick an ihre verstorbene Mutter denken. Er war von Herzen nicht böse, nur voll Vorurtheile. Seine Härte schmolz vor ihrer sanften Ueberredungskunst, und schon glaubte sie gewonnen zu haben, als Tante Kascha alle ihre Bemühungen vereitelte. Die alte Jungfer war so eifersüchtig auf ihren Einfluß, daß sie bei jeder Gelegenheit ihrer Nichte entgegentrat, um sich so die Herrschaft über den Baron zu sichern. Aus diesem Grunde bekämpfte sie auch diesmal das aufsteigende Mitleid ihres Bruders, indem sie dasselbe zu einer sträflichen Nachgiebigkeit und schädlichen Schwäche stempelte. Sie gebrauchte dabei den Kunstgriff, den Baron auf die Folgen einer solchen Begnadigung aufmerksam zu machen und auf den aufsätzigen Geist seiner Bauern, dessen Vorhandensein sich nicht leugnen ließ, entschieden hinzuweisen. Diese Andeutungen verfehlten ihre Wirkung nicht, und Veronika sah sich gezwungen, ihren Schützling aufzugeben.

Der Baron fluchte von Neuem über die königliche Cabinetsordre, über das Beamtenpack, welches nothwendiger Weise noch eine Revolution herbeiführen müsse. Darauf ergriff er den Nachtleuchter, um sich in sein Schlafzimmer zu verfügen. Tante Kascha folgte mit Veronika, welche trotz aller Anstrengung den armen Pawel nicht retten konnte.




III.

Während die Schloßbewohner sich dem Schlafe überließen, herrschte in der Schenke des Dorfes ein sonst um diese Zeit ungewöhnliches Leben. Das große Zimmer faßte kaum die Zahl der Gäste. Hinter seinem Verschlage von Holz stand der jüdische Pachter mit seiner Frau, unablässig beschäftigt, die schnell geleerten Gläser wieder voll zu füllen. An einer langen Tafel von rohem Holz saßen auf langen Bänken Bauern und Häusler. Sie befanden sich augenscheinlich in einem Zustande hoher Aufregung, welche nicht allein dem genossenen Getränke zuzuschreiben war. Die dünnen Talglichter, welche auf dem Tische standen, reichten gerade hin, um die Dunkelheit so weit zu erhellen, daß man ihre wilden, gerötheten Gesichter erkennen konnte. Von Zeit zu Zeit erhoben sie ein lautes, drohendes Geschrei, dann wurde es wieder plötzlich still, und sie steckten flüsternd die Köpfe zusammen, als fürchteten sie, belauscht zu werden.

Der jüdische Wirth, hier Kretschmer genannt, sah dann seine Frau mit bedeutenden Blicken an. Wenn er sich aber beobachtet glaubte, so that er, als ob er nichts hörte, und sein schlaues Gesicht nahm einen möglichst gleichgültigen Ausdruck an.

Unter den Bauern ragte eine eigenthümliche Gestalt hervor. Es war dies ein Mann, der durchaus nicht in diese Gesellschaft zu gehören schien. Weder sein Benehmen noch seine Kleidung paßte dazu. Er trug einen städtischen Rock, der allerdings schon abgeschabt und an den Näthen abgetragen war. Sein Hals steckte in einer steifen, schwarzen Binde, aus der ein schmutziger Hemdkragen heraushing. Ein alter Filz voll Beulen und Quetschungen bedeckte das struppige, röthliche Haupt. Zerrissene Stiefel, aus denen die nackten Zehen hervorlauschten, vollendeten seine noch immer in solcher Umgebung elegante Toilette. In seinem ganzen Wesen gab sich jene eigenthümliche Verkommenheit, gepaart mit List und Schlauheit, kund, welche den Winkeladvocaten und Rabulisten bezeichnet. Unter der niedrigen Stirn lagen die kleinen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 45. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_045.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)