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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Noch tiefer als der Fink und in einem elenden kleinen Käfig, den ein wildes Durcheinander von einem halben Dutzend großer und kleiner Vögel bevölkerte, zeigte man mir einen Gefangenen, den ich nicht heraus erkannt haben würde, eine junge, erst am Morgen gefangene Nachtigall. Der Vogelhändler hatte mit geschicktem Machiavellismus den traurigen Gefangenen mitten unter eine Welt von kleinen Sklaven gesetzt, die sehr lustig waren und sich schon in das Gefängnißleben gefunden hatten. Es waren junge Troglodyten, die vor nicht gar langer Zeit im Gefängniß geboren waren, und er hatte sehr wohl berechnet, daß der Anblick von unschuldigen Kinderspielen häufig über einen großen Schmerz hinwegtäuscht.

Groß allerdings, ungeheuer war hier der Schmerz ausgedrückt, stärker als wir es durch Thränen vermögen. Es war ein stummer Schmerz, in sich verschlossen, der nichts als Finsterniß wollte. Das Thier stand ganz hinten in dem Bauer im Dunkel halb hinter einem kleinen Freßnapf verborgen; es hatte sich aufgeblasen und stand mit etwas gesträubten Federn da, schloß die Augen und öffnete sie sogar nicht, wenn es von den jungen Tollköpfen bei ihren Spielen gestoßen wurde. Offenbar wollte es nichts sehen, nichts hören, weder fressen, noch sich trösten. Dieses freiwillige Dunkel war, das fühlte ich deutlich, in seinem herben Schmerze ein Bestreben, nicht zu sein, ein beabsichtigter Selbstmord. Mit dem Geiste umfing es schon den Tod und starb, so sehr es in seinen Kräften stand durch eine Aufhebung der Sinne und jeder äußeren Thätigkeit.

Zu bemerken ist, daß diese Haltung nichts von Haß, von Bitterkeit, von Zorn hatte, nichts, was an seinen Nachbar, den Finken, mit seinem unruhigen, gequälten Wesen hätte erinnern können. Selbst die Indiskretion der jungen Vögel, welche leichtsinnig und ohne Achtung vor seinem Schmerz mitunter ihn bedrängten, konnte ihm kein Zeichen von Verdruß entreißen. Ich fühlte aus ihm die Seele eines Künstlers heraus, die ganz Sanftmuth, ganz Licht war, ohne Galle, ohne Aerger über die Barbarei der Welt, und die Grausamkeit des Schicksals. Und nur deshalb lebte er, deshalb starb er nicht, weil er bei aller Trauer, allem Schmerze in sich die seiner Natur eigene allmächtige Herzstärkung fand, das innere Licht, den Gesang. Diese beiden Dinge sagen in der Sprache der Nachtigallen dasselbe.

Ich begriff, warum er nicht starb, es war, weil selbst die Sehnsucht nach dem Tode in ihm wieder zum Gesange wurde. Sein Herz sang stummer Weise, was ich vollkommen verstand:

     … Lascia ch’io pianga la Libertà!
     Laß mich um meine Freiheit weinen!

Ich fragte seinen Kerkermeister, ob er käuflich sei. Der schlaue Mann sagte, er sei noch zu jung, um verkauft zu werden, er fresse noch nicht allein; offenbar war dies unwahr, denn er war nicht von diesem Jahr, aber jener wollte ihn behalten, um ihn gegen Ende Winters zu verkaufen, wenn seine wiederkehrende Stimme ihm höheren Werth gab. Ein solcher freigeborener Nachtigallvogel ist viel werthvoller, als ein im Käfig zur Welt gekommener; er ist allein die wahre Nachtigall, singt ganz anders, da er Freiheit und die Natur gekannt hat und nach beiden sich zurücksehnt. Der bessere Theil des Künstlers ist der Schmerz …

Des Künstlers! Ich habe dies Wort gebraucht und nehme es auch nicht zurück. Die Nachtigall ist meiner Ansicht nach nicht der erste, sondern der einzige Vogel, dem man diesen Namen schuldig ist.

Weshalb? Weil er allein schöpferisch ist; er allein variirt, bereichert, erweitert seinen Gesang, fügt neue Melodien hinzu. Er allein ist fruchtbar und schöpferisch aus sich selbst heraus, die andern nur in Folge Unterrichts und Nachahmung. Er allein hat Alles, was jene vereinzelt bringen, jeder von den andern, selbst die glänzendsten, singen nur ein Stück Nachtigallmelodie.

Ein einziger Vogel erreicht mit ihm im Genre des Naiven und Einfachen erhabene Effekte: das ist die Lerche, die Tochter der Sonne. Auch die Nachtigall ist vom Lichte inspirirt und in dem Maße, daß, wenn sie in der Gefangenschaft allein, der Liebe beraubt ist, das Licht genügt, sie zum Singen zu bringen. Eine Zeit lang im Dunkeln gehalten, dann plötzlich wieder an das Tageslicht gelassen, delirirt sie vor Begeisterung, bricht in Lobgesänge aus. Der Unterschied ist jedoch, daß die Lerche keinen Nachtgesang hat, es fehlt ihr am Verständniß der großen Effekte des Abends, der hohen Poesie des Dunkels, der Feierlichkeit der Mitternacht, der Sehnsucht erweckenden Dämmerung, mit einem Worte, sie kennt nicht die so abwechselnde Dichtung, welche uns mit allen ihren Schattirungen ein großes Herz voll Zärtlichkeit zu vermitteln weiß. Die Lerche hat ein lyrisches Talent, der Nachtigall gehört das Gebiet des Epos, des Drama, der Seelenkämpfe an: daher empfindet sie ein ganz besonderes Licht. In voller Dunkelheit sieht sie mit der Seele, mit Liebesglut, auf Augenblicke sogar, wie mir scheint, über die individuelle Liebe hinaus mit einer Art Theilhaftigkeit der unendlichen Liebe.

Warum soll man sie also nicht Künstlerin nennen? Sie hat das Temperament dazu in einem Grade, wie es beim Menschen selbst selten vorkommt. Alles, was damit zusammenhängt, die Fehler sowohl wie die Tugenden, besitzt sie im Uebermaß. Sie ist scheu und furchtsam, mißtrauisch und nicht im Geringsten verschlagen. Sie sorgt nicht für ihre Sicherheit und reist allein; sie ist im höchsten Grade eifersüchtig und singt sich fast zu Tode, wie ein Schriftsteller sagt. Sie hört sich selbst gern, setzt sich gern an Stellen, wo ein Echo ist, um zu hören und zu antworten. Nervös zum Exceß, sieht man sie in Gefangenschaft bald den Tag über lange schlafen mit lebhaften Träumen, bald die höchste Unruhe bezeigen, wachen, hin- und herrasen; sie ist auch Nervenanfällen, der Epilepsie, unterworfen.

Sie ist gut und zugleich auch wild. Gegen die Kleinen und Schwachen ist sie zärtlich, sie wird Waisen annehmen, für sie sorgen; das Männchen, wenn es alt ist, ernährt sie sogar mit einer Aufmerksamkeit wie ein Weibchen. Andererseits ist sie sehr gierig nach Beute, gefräßig und eigennützig; die Flamme, welche in ihr glüht und sie fast stets hungrig erhält, läßt sie fortwährend das Bedürfniß nach Nahrung fühlen; und das ist auch ein Grund, warum man sie leicht fangen kann. Man braucht des Morgens nur die Falle aufzustellen, besonders im April und Mai, wo sie des Nachts durch Singen ganz erschöpft ist, dann wirft sie matt und begierig sich blindlings auf den Köder. Uebrigens ist sie auch sehr neugierig, und um neue Gegenstände zu sehen, läßt sie sich fangen.

Hat man sie und trägt nicht Sorge, ihr die Flügel zu binden, oder wenigstens das Innere des Käfigs zu wattiren, so tödtet sie sich leicht durch ihre wilden Bewegungen.

Ihre Heftigkeit ist nur äußerlich; im Grunde ist sie sanft und gelehrig; das eben stellt sie so hoch und macht sie zur Künstlerin, sie ist nicht blos der talentvollste, sondern auch der ziehbarste, bildungsfähigste, fleißigste Vogel.

Es macht Spaß, zu sehen, wie die Kleinen um den Vater herum aufmerksam zuhorchen, zulernen, ihre Stimmen bilden, nach und nach ihre Fehler und Ungefügigkeiten verbessern und dann ihre jungen Organe geschmeidig machen.

Aber wenn sie nun gar für sich allein ihre Uebungen beginnen, sich neue Themata einüben, es liegt dann in ihnen eine solche Ausdauer, eine solche Achtung vor ihrer Kunst, eine künstlerische Gewissenhaftigkeit, welche sie zu ganz besonderen Wesen und es unmöglich macht, sie mit den hohlen Improvisatoren zu verwechseln, deren unbesonnenes Geschwätz nur ein Echo der Natur ist.

So sind Liebe und Licht allerdings ihr Ausgangspunkt, aber die Kunst selbst, die Liebe zum Schönen unbestimmt begriffen, aber desto tiefer gefühlt, sind ein zweiter Nahrungsstoff, der sie erhält und ihr neuen Schwung gibt.

Die wahre Größe des Künstlers besteht darin, daß er über seinen Gegenstand hinausgeht, mehr thut, als er will, daß er durch das Mögliche hindurch noch jenseits desselben etwas ahnt und ahnen läßt, was nicht erreicht werden kann.

Daher die große Schwermuth, die unversiegbare Traurigkeit, daher die erhabene Thorheit, Unglück zu beweinen, das nie geschehen. Die andern Vogel wundern sich darüber und fragen die Nachtigall bisweilen, was sie hat, was ihr fehle. Glücklich und in Freiheit, antwortet sie dennoch, was jene Gefangene in ihrem Schweigen für mich sang:

     Lascia che io pianga! – Laß mich weinen!



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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 711. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_711.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)