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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

sich eine Industrie- und Gewerbehalle. Mit bange klopfendem Herzen betrat Alexis ihn. Diese Räume, einst der Wohnsitz der Macht und des Glanzes, waren jetzt ein Ablagerungsort für die Erzeugnisse der Eisenhämmer und der Weberstühle. Nirgend mehr ein Zeichen aristokratischer Herrlichkeit. Keine weiten Säle im steten Festschmuck prangend, oft Monate lang nicht benutzt, aber jeden Augenblick bereit, eine Schaar von Gästen mit allem Glanze würdig zu empfangen. Jetzt waren alle Gemächer einander gleich; jeder fußbreite Platz nach dem Richtmaaß gewissenhaft vertheilt. Alexis konnte hier nicht heimisch werden. Er verließ die Heimath seiner Vater mit noch bedrückterem Herzen, als er sie betreten hatte.

Weiter setzte der Wanderer den Fuß. Abwärts führten seine Schritte, dem Hügel am Meere zu, auf dessen Spitze das halb verfallene Stammschloß derer von Steinau lag. An einem trüben Abend, der mit seiner Stimmung harmonirte, langte Alexis bei den Wohnungen der Sassen, am Abhange des Hügels an. Hier begann der Schauplatz, auf welchem er einen großen Theil seiner Jugend verlebte und in dem Schooße der ursprünglichen Natur die ersten Weihen der Kunst empfing. Hier kannte er jeden Fußsteig. In jedem Busch, jedem hervorragenden Stein, glaubte er einen Bekannten zu begrüßen. Hätte er an diese oder jene Thür geklopft, öffnete ihm diese wohl ein Greis oder ein altes Mütterchen, die ihn mit dem Ausrufe empfing: „Grüß Gott, Junkherr!“ wie es ehedem geschehen. Aber jetzt trieb es ihn mächtig vorwärts, und er ließ nicht nach, bis er die Spitze des Hügels erreichte und vor der Pforte stand, durch die er so oft hinausgeschlüpft war in den frischen, grünen Wald.

Noch saß der große, eiserne Klopfhammer an derselben Stelle und als wartete der Pförtner seines Amtes wie sonst, schlug Alexis drei Mal mit dem wuchtigen Eisen gegen die metallene Platte, daß es weithin schallte. Aber wie erschrak er, als die Pforte sich geräuschlos öffnete und ein Mann mit einer brennenden Fackel erschien. Das volle Licht fiel auf das Gesicht dieses Mannes und Alexis glaubte, denselben irgendwo gesehen zu haben, könne er sich auch jetzt nicht gleich besinnen, wo? Der Alte aber sagte:

„Ihr bleibt lange aus, Samuel. Habt wohl den Doktor nicht gleich finden können? Beeilt Euch, Herr; es steht schlimm mit meinem Gebieter.“

Alexis war eingetreten und der Mann, ihn näher ansehend, sprach:

„Wer seid Ihr? Was wollt Ihr?“

„Ein Reisender sucht auf dem Edelsitz der Hochgeborenen Grafen und Herren von Steinau das Gastrecht!“ entgegnete Alexis. „Sage mir, alter Mann, der Du mir wie eine Erscheinung aus früheren Tagen entgegen trittst, wer Du bist?“

Der Mann wurde durch den Ton dieser Stimme seltsam bewegt. Er hielt die Fackel von sich und ließ das volle Licht auf den Eintretenden fallen. Lange sah er ihn mit starren Augen an, dann aber rief er plötzlich unter einem Strom von Thränen:

„Es ist einer unserer Verlornen!“

„Und auch ich erkenne Dich nun“, sagte Alexis mit unbeschreiblicher Weichheit. „Warst Du nicht auf diesem Schlosse, als der fromme Meister Walter in der großen Halle malte und ich sein treuer Schüler war?“

„Ach Gott, er weiß das noch!“ rief der Diener mit zitternder Stimme. „O geschwind, geschwind, lieber Herr. Kommt mit nach der Halle, und Ihr werdet eine große Freude erleben. Und der alte Herr – ja, mein Söhnchen, er lebt noch, wenn auch sein Leben an einem seidnen Faden hängt. Ach! Er wird von Euch neues Leben empfangen, oder Ihr werdet ihm die Augen zudrücken. Das ist auch ein Trost. Meine Kniee schlagen aneinander. Ich kann nicht weiter.“

Der Alte vermochte kaum die Fackel zu halten. Alexis nahm sie ihm ab, faßte ihn kräftig unter den Arm und schritt der Halle zu. Der Diener aber sagte: „Tretet Ihr nicht zuerst ein. Er hätte den Tod davon, wenn er Euch so unvorbereitet sähe. Laßt mich gewähren, Herr; ich nehme mich schon zusammen.“

In der Halle glimmte das Feuer matt in dem Kamin. Der alte Graf saß in dem hohen Lehnsessel und sah in die verlöschende Glut, die sein bleiches Gesicht mit einem rosigen Schimmer übergoß.

„Bringst Du den Doktor, Anton?“ fragte er.

„Nein, Herr!“ entgegnete dieser.

„Ist auch unnütz, Anton. Hier ist keine Hülfe mehr; das letzte Sandkorn ist im Verrinnen. Wer schlug so laut an die Pforte?“

„Ein Fremder. Er bittet um die Gastfreundschaft der Grafen von Steinau.“

„Was ein armer Verbannter zu bieten hat, ist gern gewährt. Führe ihn her. Sagte er, wer er sei?“

„Er sagte es“, entgegnete Anton und sprudelte über. „Wenn Ihr wüßtet, wen ich Euch bringe. Ach, Herr … Hört …“

Und weiter ging es; ein Strom von Worten, über- und durcheinander, daß selbst Einer, der Alles im Voraus wußte, ihn nicht verstanden hätte, geschweige Jemand, dem Alles unbekannt ward.

Der Graf war nicht kräftig genug, seinen Redefluß zu unterbrechen und murmelte vor sich hin: „Der Alte spricht irre. Er weiß nicht, was er sagt.“

Da hielt es Alexis nicht länger zurück. Er trat rasch ein, kniete vor dem Grafen nieder und drückte dessen Hand an seine Lippen. Anton aber rief: „Er ist es! Alexis, unser Jüngster.“

Es dauerte lange, ehe sie sich faßten. Ein stetes Fragen und Antworten, ohne daß sie recht hörten, was sie sich sagten. Anton stand nahebei und konnte sich nicht satt fragen. Endlich aber kauerte[WS 1] er in einer fernen Ecke der Halle am Boden und sagte: „Ich will sie nur ansehen; nichts weiter.“

Der alte Graf war einen Augenblick wie vergnügt. Seine Augen strahlten, seine Wangen glühten. Freudenlose Tage der Verbannung hatte er überwunden. Endlich öffnete man ihm die Heimath; aber nur unter Bedingungen, die er nicht annehmen konnte. Ein einflußreicher Freund vermittelte, daß der Graf von Steinau sein altes Stammschloß bewohnen dürfe, und aus den Erträgnissen seiner eingezogenen Güter eine Jahresrente erhielt. Bedingung war, daß er sich auf das Gränzgebiet des Schlosses zu beschränken habe. Er erfüllte diese Bedingung nur zu wörtlich.

Allein mit seinem Gram lebte er innerhalb dieser Mauern. Umsonst waren die Erkundigungen, welche er nach Meister Walter und seinem jungen Sohn anstellte. Wenn der Meister jemals ein Zeichen hinterließ, wo er zu finden sei, war dieses Zeichen von einer dritten Hand vernichtet; vielleicht von derselben Hand, die sich nach dem Obersten und seinem schönen Weibe ausstreckte, denn auch diese blieben spurlos verschwunden.

„Ich schien einsam sterben zu sollen“, sagte der Graf erschöpft. „Und es wäre auch wohl in dieser Nacht geschehen, wenn mir nicht Gottes Barmherzigkeit Dich hieher gesandt hätte, damit ich eine geliebte Seele um mich habe. Nein, zwei! Den Anton darf ich nicht vergessen. Anton, Du alter treuer Diener. Treu wie Gold.“

Anton hörte es wohl in seiner Ecke, daß sein Herr ihn rief; aber er kam nicht, sondern hielt die Hand über die Augen und weinte still.

Schon dämmerte der Morgen durch die hohen Fenster herein. Der Graf hatte sich nicht von dem Sohne trennen wollen. Endlich gab er der beharrlichen Bitte nach und legte sich nieder. Alexis durfte ihn auch jetzt nicht verlassen.

Unterdessen hatte der Bote Samuel den Arzt gebracht, und dieser war um den Grafen bemüht. Er sagte dem Kranken einige tröstende Worte. Zu Alexis aber sprach er: „Wenn der Graf noch irgend etwas anzuordnen hat, lassen Sie es bald geschehen, es ist sonst zu spät.“

Die Stunde nahte, wo die sich für immer trennen sollten, die sich kaum gefunden hatten. Der Graf zog den Sohn zu sich nieder und flüsterte ihm zu:

„Der böse Theodor hat seinen Zweck doch nicht ganz erreicht. Er suchte mich einmal auf, als ich noch in der Verbannung war und sagte mir höhnend, ich hätte ihm sein Lebensglück geraubt, darum raube er mir das meine. Nie würde ich eines meiner Kinder wiedersehen. Und nun habe ich Dich doch und sterbe an Deinem Herzen. Gott segne Dich viel tausend Mal.“

Gegen Mittag war der Graf nicht mehr. Der Geistliche und der Richter des nächsten Ortes kamen. Sie waren von dem Verstorbenen längst für diesen Fall angewiesen. Man begrub ihn in aller Stille auf dem Kirchhofe des Ortes. Für seinen Anton hatte er treu gesorgt. Die Gemeinde erhielt die jährlichen Ersparnisse der gräflichen Rente, dafür war sie verpflichtet, den alten Diener bis an sein Ende zu pflegen. Er blieb auf dem Schlosse. Sein täglicher Gang war nach dem Grabe seines Herrn, daselbst

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: lauerte
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 444. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_444.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)