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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Sie ging in das Zimmer zurück. Als sie den Gatten bleich und düster vor sich hinblickend in dem Lehnstuhle sitzen sah, hätte sie in Thränen ausbrechen mögen. Die Liebe gab ihr Kraft, ein freundliches Gesicht zu zeigen. Cäsar fragte nicht, aber er sah seine Frau mit unruhig forschenden Blicken an.

„Der Zettel,“ sagte sie, „enthält eine Auktionsanzeige.“

„Nichts weiter?“

„Die Leute sind hier sehr neugierig!“

Man trank die Chokolate. Wilhelmine suchte nach einem Vorwande, um sich zu entfernen; er war bald gefunden. Sie machte eine einfache, geschmackvolle Toilette. Cäsar umarmte sie mit großer Innigkeit, hielt sie aber, gegen seine Gewohnheit, heute nicht zurück. Sie eilte durch die Straßen. An der nächsten Ecke las sie den großen Zettel. Die genaue Beschreibung des Portefeuilles beseitigte den letzten Zweifel. Sie bestieg einen Fiaker und ließ sich nach dem Leihhause fahren. Hier versetzte sie alle ihre Gold- und Schmucksachen, die sie bei sich trug. Sie forderte und erhielt auf die werthvollen Juwelen die Summe von vierhundert Thalern. Nun ließ sich Wilhelmine nach dem Hause des Doctor Nataß fahren. Eine Magd sagte ihr, daß der Senator in dem ersten Stocke wohne. Auf dem Korridor trat ihr der lange Lorenz entgegen – er trug die Reste des Frühstücks seines Herrn.

„Ich möchte den Herrn Senator Beck aus Bremen sprechen!“ sagte Wilhelmine, nachdem sie den alten Diener gegrüßt hatte.

Lorenz sah die reizende junge Frau mit großen Augen an.

„Meinen Herrn?“ fragte er verwundert.

„Den Herrn Senator Gottfried Christian Beck aus Bremen.“

„Ganz recht. Wen habe ich die Ehre anzumelden?“

„Eine Dame, die ihn in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen hat.“

„Nichts weiter?“

„Ich glaube, es wird genügen, um mir Zutritt zu verschaffen.“

Lorenz setzte seinen großen Präsentirteller auf einen Tisch, und ging in das Zimmer. Der Senator hatte bereits Toilette gemacht, denn er wollte ausgehen.

„Eine junge Dame, sagst Du?“ fragte er verwundert.


„Und dabei ist sie so schön, wie ich noch selten eine gesehen habe.“

„Wie ist sie gekleidet?“

„Sehr elegant, Herr Senator. Ich glaube, man darf sie nicht abweisen.“

„Hm! So mag sie eintreten!“

Lorenz ordnete mit geübten Fingern die Cravatte seines Herrn, und bürstete mit einer kleinen Haarbürste, die er aus der Tasche gezogen, die dünnen Haare des dicken Senators, daß sie fest und glatt an den Schläfen lagen.

„Was denkst Du, Lorenz?“

„Ich würde an unsern Neffen denken, Herr Senator, wenn die Dame nicht so mädchenhaft aussähe.“

„Aber ich habe hier keine Bekanntschaften –“

„Nun, wir werden ja sehen.“

Der alte Diener öffnete die Thür und bat Wilhelminen, einzutreten. Im nächsten Augenblicke stand die junge Frau vor dem Senator. Erröthend grüßte sie den Onkel ihres Mannes durch eine graziöse Verneigung. Der Senator dankte mit der Würde eines Senators.

„Mein Herr, Sie haben ein Portefeuille mit siebenhundert Thalern verloren?“ fragte Wilhelmine.

„Wie, ich?“

„Herr Gottfried Christian Beck.“

„Sie kennen meinen vollständigen Namen, mein Fräulein.“

Madame wagte der Senator nicht zu sagen. Wilhelmine ließ sich nicht beirren; sie glaubte an eine Ausflucht des alten Herrn, der ihr jovial genug dazu erschien.

„Verzeihung, mein Herr, dann muß ich mich geirrt haben.“

„Ohne Zweifel. Aber aus welchem Grunde glauben Sie, daß ich ein Portefeuille verloren habe?“

„Weil eine Visitenkarte mit Ihrem Namen darin liegt. Hier ist die Karte.“ Der Senator nahm das kleine vergilbte Blatt.

„Wahrhaftig!“ murmelte er erstaunt, nachdem er die veraltete Schrift gelesen. Dann betrachtete er schweigend einige Augenblicke das Blatt. Plötzlich spiegelte sich in seinem Gesichte eine angenehme Ueberraschung ab.

„Mein Fräulein,“ sagte er hastig, „kann ich das Portefeuille sehen?“

Wilhelmine überreichte es. Die Hand des Senators zitterte ein wenig, nachdem er einen Blick auf die in Perlen gestickten Buchstaben des Deckels geworfen hatte.

„Sie sind der Besitzer nicht?“ fragte die verwunderte Wilhelmine.

Der Senator antwortete nicht; er öffnete das Buch und holte den Inhalt heraus. Die Banknoten legte er auf den Tisch. Die beiden andern, wie Briefe aussehenden Papiere öffnete und las er. Wilhelmine hatte sie aus Discretion unberührt gelassen. Die Lectüre erregte in dem Lesenden eine große Bewegung, und Wilhelmine, die ihn erstaunt beobachtete, glaubte zu bemerken, daß seine Augen feucht wurden.

„Mein Gott,“ murmelte er, „das ist ein wunderbarer Zufall! Mein Fräulein, wo haben Sie dieses Buch gefunden?“

„In der Straße – nicht weit von Ihrer Wohnung.“

„Wann?“

„Gestern Abend. Diesen Morgen fordern große Anschlagzettel den Finder auf, es auf dem Polizeibureau gegen eine Belohnung abzuliefern. Ich zog es vor, die Andeutung dieser Karte zu benützen – –“

„Und Sie haben Recht gethan, denn andernfalls hätten Sie mich eines Vergnügens beraubt, das ich mit mehr als dieser Summe – er deutete auf die Banknoten – zu bezahlen geneigt bin. O, ich bitte, nehmen Sie das Ganze.“

Wilhelmine trat erröthend zurück.

„Verzeihung, mein Herr – Sie sagten, daß Sie nicht der Eigenthümer seien –“

„Es ist wahr!“ antwortete der Senator, sich fassend. „Aber ich ersuche Sie, mich den Finder sein zu lassen. Bestimmen Sie selbst den Lohn für diese Gefälligkeit. Daß dieses Portefeuille dem rechtmäßigen Eigenthümer wieder zugestellt werde, brauche ich wohl nicht zu versichern. Ich bürge Ihnen mit meinem Ehrenworte dafür.“

Die junge Frau konnte sich zwar den Zusammenhang aller dieser Umstände nicht erklären, aber sie ging ohne Zögern auf den Vorschlag des Senators ein, zumal da sie den Hauptzweck erreicht hatte.

„Mein Herr,“ sagte sie, „darf ich mir einen Finderlohn erbitten?“

Der Senator verneigte sich.

„So erlauben Sie mir, daß ich mir diesen Abend eine Quittung über die richtige Ablieferung des Portefeuilles hole.“

„Mißtrauen Sie mir?“

„Nein, mein Herr; aber ich bedarf ihrer zu meiner eigenen Beruhigung.“

„Und darf ich wissen, wer mir die Ehre erzeigt –“

Wilhelmine verneigte sich, und verließ das Zimmer, ohne zu antworten.

„Das ist ein reizendes, aber stolzes Geschöpf!“ dachte der Senator. „Ich habe immer geglaubt, daß der Eigennutz eine Hauptschwäche der Frauen ist – hier finde ich die erste Ausnahme. Wie Schade, daß ich nicht fünfunddreißig Jahre jünger bin!“

Er hüllte sich in seinen Pelz, und verließ, von Lorenz gefolgt, das Haus, nachdem er das Portefeuille zu sich gesteckt hatte. Sein erster Weg war der auf das Polizeiburau, um nähere Erkundigungen über das Portefeuille einzuziehen. Man nannte ihm eine Frau von Jasper und bezeichnete ihm das Haus, in dem sie wohnte.




VIII.

Die Landdrostin hatte so eben mit Susannens Hülfe ihre Toilette beendet; sie stand vor dem Spiegel und legte ein wenig Roth auf die verblühten Wangen. Da ward leise an die Thür geklopft. Die Dame schloß rasch ihr Schminkkästchen und rief mit lauter Stimme „herein!“ Der Senator erschien auf der Schwelle; hinter ihm zeigte sich die lange Gestalt des alten Lorenz. Die Landdrostin fuhr entsetzt zurück, als sie die Gruppe der beiden ihr verhaßt gewordenen Männer sah. Aber auch das Gesicht des Senators verlängerte sich ein wenig bei dem Erblicken der alten

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 411. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_411.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)