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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

daß Dein Mann von Philipps eine Einladung für diesen Abend erhält, der er nicht ausweichen kann. Du wirst von sechs bis neun Uhr völlig frei sein. Wähle denselben Anzug, den Du in der Polstraße getragen, und finde Dich Punkt halb acht Uhr bei dem Thurme der Kirche von Sanct Georg ein. Es wacht über Dich Dein

E. K.“ 

Wie vernichtet sank der Banquier auf seinen Sessel. Der Brief trug weder Adresse noch Ueberschrift – aber aus Allem ging hervor, daß er an Henrietten gerichtet war. Demnach hatte der Advokat sie wirklich in der Polstraße gesehen, demnach war ihr Ring in seiner Hand geblieben, und der falsche bei dem Juwelier bestellt, um den echten zu ersetzen. Zu dem Schmerze über diese Treulosigkeit kam der furchtbare Gedanke: der Verleumdung, die der Kaufmann einst ausgesprochen, liegt etwas Wahres zum Grunde. Und Edmund Kolbert ist der hohe Protektor. Wer aber ist Kolbert? Wer aber ist der Kapitain Belling?

„Ich kann es diesen Abend erfahren!“ murmelte er mit einer gräßlichen Bitterkeit vor sich hin. „Wohlan, so will ich die Rolle spielen, die man mir zugedacht hat – Philipps mag seine Einladung senden, ich nehme sie an!“

Während der Banquier in seinem Kabinette auf und abging, fand draußen eine andere Scene statt. Ludwig Lambert kam von einem Geschäftsgange zurück. In dem Augenblicke, als er die hell beleuchtete Hausflur betrat, geleitete Madame Soltau eine junge, elegant gekleidete Dame die Treppe herab. Auf der Mitte der Treppe grüßten Beide sehr artig, und trennten sich. Die junge Dame rauschte die Stufen herab, und trat dem Commis entgegen.

„Sophie!“ flüsterte Ludwig überrascht.

Die junge Dame sah ihn verwundert an. In diesem Augenblicke schlug die Uhr auf dem nahen Nicolaithurme drei.

„Mein Gott, sollte ich mich täuschen?“ stammelte der verwirrte Commis.

„Wen glauben Sie in mir zu sehen?“ fragte sie freundlich.

„Sophie Saller!“

„Sie irren, mein Herr. Eine zufällige Aehnlichkeit täuscht Sie.“

„Nein, das ist nicht möglich!“

„Ich wiederhole es, mein Herr.“

„Sie müssen –“

Die Dame zog ihren schwarzen Schleier über das Gesicht, verneigte sich flüchtig und schwebte, leicht wie ein Sylph, der Thür zu, die Lambert offen gelassen hatte. Ein Fiaker rasselte herbei, und hielt dicht vor der Thür. Lambert eilte der Dame nach, um sie noch einmal anzureden – als er aber auf der Schwelle der Thür ankam, ward der Schlag von innen geöffnet, und zwei Männerarme, deren Hände mit schneeweißen Handschuhen bekleidet waren, empfingen die einsteigende Schöne. Das rasche Wiederzuschlagen der Wagenthür gab dem Kutscher das Signal, er hieb auf sein Pferd, und der Fiaker verschwand in der finstern Straße.

Der verliebte Commis stand einen Augenblick bestürzt da, dann schloß er die Thür, und flüsterte vor sich hin:

„Nein, sie war es nicht; Sophie trägt keinen Sammethut mit Straußfedern und keinen mit Pelz gefütterten Atlasmantel. Auch ist sie mir zu gut, als daß sie mich verleugnen sollte. Sahe ich doch, seit ich sie kenne, in jedem jungen Mädchen meine Sophie, und da diese Dame ihr ähnlicher sieht, als jede andere, ist es natürlich, daß ich mich täuschte. Und was hätte Sophie bei Madame Soltau zu thun? Nein, sie war es nicht; die mit weißen Handschuhen bekleideten Hände sollen mich nicht erschrecken! Diesen Abend werde ich ihr das seltsame Zusammentreffen erzählen.“

Ludwig liebte zum ersten Male, und da er selbst keiner Täuschung fähig war, glaubte er fest an die Redlichkeit seiner Geliebten. Soltau würde ihm gesagt haben: armer Mann, Sie kennen die Frauen nicht!

Mit dem gewöhnlichen Eifer gab sich der Commis seiner Arbeit hin, bis die Stunde der Freiheit schlug. Der Banquier ging um vier Uhr zu Tische. Kein Blick, keine Miene verrieth, was in seinem Innern vorging; er nahm immer noch Anstand, den Stab über seine Gattin zu brechen, die mit einer himmlischen Anmuth den Gatten bei Tische bediente. Sie war ganz Zärtlichkeit, ganz Liebe. Die beiden Gatten hatten den Tisch noch nicht verlassen, als die Kammerfrau einen Brief brachte. Er enthielt die erwartete und gefürchtete Einladung Philipps’. Der Agent schrieb, daß er unwohl sei, und den Freund dringend bitte, ihn um sechs Uhr behufs Besprechung einer wichtigen Geschäftsangelegenheit, die sich bis auf den folgenden Tag ohne Nachtheil nicht verschieben lasse, zu besuchen. Er reichte den Brief seiner Frau.

„Philipps war diesen Mittag nicht auf der Börse,“ fügte er hinzu.

Seine stechenden Blicke ruhten auf Henrietten, während sie las. Ihr schönes Gesicht veränderte sich nicht, sie blieb unbefangen wie zuvor. „Sollte sie um die Sache, nicht wissen, da sie den Brief nicht empfangen hat?“ fragte er sich. Daß sie selbst das Papier in dem Wagen verloren habe, ließ sich nicht annehmen, es mußte demnach eine zweite Dame die Ueberbringerin gewesen sein. Gern hätte er gefragt, ob Henriette Besuch gehabt habe; aber er schwieg, um keinen Verdacht zu erwecken.

„Willst Du der Einladung folgen?“ fragte sie, indem sie das Papier auf den Tisch legte.

„Ich muß wohl. Philipps ist krank und das Geschäft läßt sich nicht aufschieben.“

„Nimm unsern Wagen bei dem schlechten Wetter, Franz.“

„Ja, mein Kind, ich werde den Wagen nehmen.“

„Und wann soll ich ihn senden, daß er Dich zurückholt?“

„Um zehn Uhr! Nun ist sie ganz sicher,“ dachte er. „Es unterliegt keinem Zweifel: die Botin hat ihren Auftrag mündlich ausgerichtet.“

Gleich nach sechs Uhr warf sich Franz in den Wagen, nachdem er unter einer furchtbaren Herzensbeklemmung seine Frau geküßt hatte. Ihm war, als ob er ihre schönen Lippen zum letzten Male berührt, als ob er von einer Verlorenen Abschied genommen hätte. Nur einem Charakter, wie ihn der Banquier besaß, konnte es gelingen, unter so schwierigen Umständen scheinbar die Fassung zu bewahren. Als er allein in der Ecke des Wagens saß, flossen seine Thränen. Doch bald erlangte die Energie seines Willens die Herrschaft wieder, und als der Wagen vor Philipps’ Wohnung hielt, lag der Ernst des Geschäftsmannes auf seinem Gesichte. Der Agent, der wirklich von einem starken Catarrh heimgesucht war, empfing den Freund mit der gewohnten Herzlichkeit. Es lag dem Banquier daran, zu erfahren, ob Philipps ein willenloses Werkzeug Kolbert’s sei, oder ob auch der Jugendfreund eine Rolle in dem großen Drama spiele, dessen Katastrophe er diesen Abend herbeizuführen gedachte. Der Agent schlug ihm wirklich ein Actiengeschäft vor, das, wenn es am nächsten Tage auf der Börse eingeleitet wurde, einen großen und sichern Gewinn versprach. Dieser Vorschlag gründete sich auf Nachmittags eingegangene Depeschen und auf das Sinken gewisser Papiere an der Börse, er war mit einem Worte durch rasch eingetretene Verhältnisse entstanden, daß Franz nicht glauben konnte, der Agent habe darin einen Vorwand gesucht und gefunden. Aber hatte Philipps auf dem Balle nicht gesagt, daß er über den Kapitain Näheres erfahren wolle? Hatte ihn Miß Belling durch ihre Schönheit nicht bezaubert? Und hatte er bis jetzt nicht vermieden, des Gegenstandes auch nur mit einem Worte zu erwähnen? Diese Betrachtungen hielten den Argwohn des Banquiers wach, und er beschloß auch bei dem Jugendfreunde, den man ohne Zweifel durch die reizende Miß Belling zu Allem gefügig gemacht, auf seiner Hut zu sein. Man besprach noch eine Stunde das Geschäft, und Franz, der den Gewinn nicht in Abrede stellen konnte, ging darauf ein, obgleich ihm die Börsenangelegenheiten sehr gleichgültig waren. Was lag ihm daran, große Summen zu gewinnen, da er seinen höchsten Schatz, seine Gattin, verlieren sollte?

Franz sah, daß man Vorbereitungen zum Abendessen traf.

„Ich muß Dich verlassen, Philipps,“ sagte er, „so gern ich den Abend bei Dir zugebracht hätte. Ehe ich Deine Einladung erhielt, hatte ich dem Theaterdirektor, der, wie Du weißt, seine Gelder bei mir deponirt, versprochen, ihn gegen acht Uhr auf der Bühne aufzusuchen. Wir sehen uns morgen an der Börse.“

Philipps gab sich keine Mühe, den Freund zurückzuhalten, denn er wußte, daß der Banquier sein gegebenes Wort hielt. Er ließ durch den Diener einen Fiaker zur Fahrt nach dem Theater bestellen. Die Freunde trennten sich. In der nächsten Straße befahl Franz dem Kutscher, anzuhalten. Er öffnete das Fenster nach dem Bocke zu, und gab dem Roßlenker einen Thaler.

„Ich habe meinen Plan geändert,“ sagte er. „Fahre mich nach der Vorstadt Sanct Georg, mein Freund. Wenn ich klopfe, hältst Du an.“

Der Fiaker schlug den Weg nach der Vorstadt ein. Bei dem ersten Hause derselben hörte der Kutscher klopfen. Der Wagen hielt und der Banquier stieg aus.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 234. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_234.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)