Seite:Die Gartenlaube (1856) 077.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Der Stoß, welchen das Ohr durch einen Kanonenschuß erhält und uns dadurch meldet, daß es auswendig tüchtig geknallt hat, muß, wenn auch schwächer, wiederholt und der ganze telegraphirende Nervenproceß wieder erneuert werden, wenn wir uns des Schusses erinnern wollen. Mit dem einzigen Unterschiede, daß der durch Erinnerung erregte Nervenproceß schwächer ist (wenigstens in der Regel, denn die volle Besinnung über ein ausgestandenes Uebel kann uns zuweilen mehr erregen, als das Uebel selbst, während es wirkte) als der erste, wirkliche, ist er in beiden Fällen ganz derselbe. Jeder Akt des Besinnens, der Erinnerung, des Gedächtnisses ist daher eine Wiederholung des Processes, durch welchen wir das Ding, dessen wir uns erinnern, zuerst in uns aufnehmen. Wir können uns dies selbst beweisen, wenn wir uns mit Aufmerksamkeit auf etwas besinnen, ein längst begrabenes Erlebniß in uns wieder auferwecken. Natürliche, lebhafte Menschen können uns kaum etwas erzählen, ohne uns den Vorfall und ihre Betheiligung dabei mit Händen und Füßen und den ungeheuersten Muskelanstrengungen deutlich zu machen und gleichsam dramatisch zu wiederholen. Die Erinnerung an das Erzählte ist ein zweites Erlebniß in ihnen. Waren sie ärgerlich dabei, nimmt ihr Gesicht ganz denselben Ausdruck an, wie beim wirklichen Erlebnisse. Sie machen Alles noch einmal durch. Ihre Nerven wiederholen den ganzen ursprünglichen Proceß.

Namentlich können Kinder selten etwas beschreiben, ohne das Beschriebene möglichst treu darzustellen. Selbst lebhafte Lügner werden oft von dem Inhalte ihrer Worte so ergriffen, daß sie nach der dritten Erzählung selbst fest daran glauben. „So lag ich und so hielt ich meine Klinge,“ ruft Fallstaff und legt sich dabei so aus, wie er's jedenfalls gethan haben würde, hätte er die steifleinenen Hallunken wirklich so zusammengehauen, wie er ausführlich erzählt. Hunde bellen nicht nur im Traume, sondern versuchen auch zu gehen. Nerven und Muskeln thun im Traume dasselbe, was sie thun würden, wenn er wachend wirklich bellte und bisse, nur wegen sonstiger Gebundenheit durch den Schlaf in schwächerer Form. Viele Personen sprechen mit sich selbst. Sie können nicht denken und empfinden, ohne die nervöse und muskulöse Spannung dabei zum Theil in That zu verwandeln. Ihr Gedanke und ihre Sprache ist schon die That in einer unreifen, skizzenhaften Form. Der hingerissene Liebhaber umarmt einsam auf seinem Zimmer die Luft; der Wüthende, den sein Herz treibt, Jemanden durchzuprügeln, haut irgend ein unschuldiges, gefühlloses Ding, nur um seiner Wuth Luft zu machen. Ein jähzorniger, roher Mann, aber zu gebildet, seine Frau zu schlagen, zerschlägt einiges Porzellan mit der Empfindung befriedigter Rache. Man könnte Beispiele der Art in’s Unendliche mehren. Der zu Grunde liegende psychologische Proceß wird aber schon deutlich sein, nämlich daß das Streben einer Idee oder eines Gedankens, einer Erinnerung oder eines Entschlusses, sich zu verwirklichen, sich als Thatsache zu produciren, daß dieses Streben bereits die Thatsache inwendig ist, die Wirklichkeit in einer schwächeren Form, der Embryo belebt und reif und drängend, geboren zu werden. Wenn man geneigt zum Gähnen ist, und nur ein Weilchen diese Neigung nährt, gähnt man wirklich. Noch schlimmer, auch andere Leute gähnen dann nicht selten mit. Letzteres psychologische Geheimniß benutzen manche Taschendiebe. Sie stellen sich vor ihr Opfer hin und gähnen. Der zu Bestehlende gähnt dann auch nicht selten, und während er das Maul aufsperrt und die Nase gen Himmel richtet, ganz im Genuß der Wonne des Gähnens verloren, nimmt ihm der Dieb die Uhr oder was er sonst in der Eile loseisen kann. - Der gebildete Mensch, welcher die Ideen und Begriffe von Handlungen denkt oder ausspricht, bedarf immer einer besondern Anstrengung (oder Uebung), um die Thatsachen derselben, die wirklich in ihm vorgehen, nicht zu lebhaft und natürlich in Bewegung und Gesticulation zu äußern. Die Kunst des sogenannten Deklamirens, der Vortrag, nach Goethe „des Redners Glück,“ die mimische, die dramatische Kunst beruhen im Grunde blos auf einer Unterdrückung und Regulirung des natürlichen Bestrebens, das Vorgetragene möglichst durch Bewegung und Symbolik der Thatsachen, welche in den Worten liegen, anschaulich zu machen. Wer hier zu natürlich ist, macht den Eindruck des Rohen, Uebertriebenen. Gute Schauspieler, wie z. B. Seydelmann einer war, leben und leiden ihre Rollen übrigens ziemlich so stark durch, als wenn sie thatsächlich die leibhaftige Rolle wären. Iffland war ein Tyrann, wenn er Tyrannen einstudirte, ein schwacher, gutmüthiger Mann, wenn die Rolle, mit der er sich eben trug, ein gutmüthiger Charakter war. Seydelmann beschleunigte seinen Tod durch Einstudiren seiner letzten Rolle, des Werder’schen Columbus, der fünf Akte hindurch sich mit Sterben beschäftigt. Der bloße Gedanke an einen ekelhaften Gegenstand kann Erbrechen erregen. Wer gewisse unangenehme Töne nicht vertragen kann, dem geht es schon in die Zähne, wenn Jemand Miene macht, diesen Ton hervorzubringen.

Wir alle schaudern, wenn wir in einem Romane irgend ein schreckliches Ereigniß verfolgen. Gute Schilderungen, d. h, solche, welche die Wirklichkeit recht anschaulich malen, können uns zu Thränen rühren, wie die volle wirkliche Sache.

Die höheren Sinne des Sehens und Hörens werden selten bis zu so hohem Grade erregt, daß sie eine wirkliche Gestalt oder einen wirklichen Ton für die Empfindung erregen, wiewohl gute Musiker bei Durchlesung einer Partitur die ganze Musik derselben hören. Im Schlafe werden aber diese Sinne desto öfter mit reellen Abdrücken der Wirklichkeit geplagt oder erfreut. Daß Traumbilder wirklich Produkte von Processen sind, welche die Sehnerven beim wirklichen Sehen derselben durchmachen, daß also Traumbilder wirklich gesehen werden, davon kann man sich oft selbst überzeugen, man muß nur beim ersten Erwachen aus einem Traume gleich die Augen öffnen. Nicht selten sieht man dann noch die Traumbilder, wie sie eben verschwinden. Spinoza machte zuerst auf diese Thatsache aufmerksam und der Physiolog Johannes Müller bestätigt sie aus seiner eigenen Erfahrung. Wir haben darin den reellen und soliden Schlüssel zu Geistersehern, Hellsehern, Mesmerismen, Doppelgängern, Spuk und Aberglauben aller Art. Es ist ganz natürlich, daß Gedanken und Erinnerungen zuweilen für wirkliche Thatsachen gehalten werden. Das Wunder ist nur, daß es nicht öfter geschieht.

Ich kenne einen Aufschneider von Profession, der, so oft er den Mund aufthut, lügt, daß sich die Balken biegen und doch nie ein unwahres Wort spricht. Die Gedanken und die Ideen, welche stets nervös lebhaft und genial aus ihm herausquellen, spielen seinen Sinnesorganen so gewaltig mit, daß er stets vollkommen von der Realität seiner Aufschneidereien überzeugt ist. (Kein Spaß, sondern eine in Deutschland ziemlich bekannte Persönlichkeit.)

Man braucht nur irgend einen wiederbelebten Eindruck (oder eine Idee) durch ausschließliche Aufmerksamkeit zu verstärken und zu concentriren und ihr willenlos freien Lauf zu lassen, indem man den Willen und die Thätigkeit aller äußern Sinne aufhebt (wie dies in Fieberphantasien, im Traume und magnetischen Schlafe wirklich der Fall ist), um sich zu überzeugen, wie leicht Zustände eintreten, in welchen das aus dem Innern hervorgeholte Bild nicht mehr von einem wirklichen Gegenstande unterschieden wird, und uns die Schöpfung unserer eigenen „Phantasie“ als ein fremdes Wesen von Außen entgegentritt. Diese Entfremdung unseres eigenen Kindes ist das Wahre und Schauerliche in der Furcht vor Gespenstern, ist die Thatsache, daß auch gescheidte aufgeklärte Leute zuweilen Gespenster sehen können. Die Idee einer Handlung setzt nicht selten alle die zu dieser Handlung gehörigen Muskeln in Bewegung, ohne daß wir etwas davon merken. Das ist das bekannte Geheimniß der wirklichen und nicht eingebildeten Tischdreherei. Die volle Idee des Sehens versetzt nicht nur die entsprechenden Hirn-, sondern auch die Sehnerven in den Proceß des wirklichen Sehens. Wenn man an ein Leibgericht denkt oder nur davon spricht, läuft uns sprüchwörtlich „das Wasser im Munde zusammen,“ und der Gaumen fühlt sich mit der imaginären Delikatesse wirklich gekitzelt.

Ich hatte einmal einen lieben Freund, nämlich einen Hund, der nicht gern trocknes Brot fraß. Wenn ich aber einen ganz reinen Teller nahm und das Brot darauf umherwischte, fraß er’s mit Wonne. Die Erinnerung an Bratenfett, welche er dabei in sich auferweckte, ersetzte ihm die Butter auf dem Brote vollkommen. Vielleicht dacht’ er wirklich: ’s ist doch gut, daß ich Bratenfett auf’s Brot kriege, statt Butter. Die Irländer, die früher ihre Kartoffeln an einem in der Mitte hängenden Häringe rieben, halten, wie der Witz sagt, jede Kartoffel noch an die Stelle, wo der nicht mehr zu bezahlende Hering hing, um sie schmackhafter zu machen.

Summa Summarum ergiebt sich aus solchen psychologischen Thatsachen, mit der Wahrheit in der Mitte, daß Gedanken und Ideen die Nerven wirklich eben so in Thätigkeit setzen, wie die auf uns wirkenden Thatsachen derselben,

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 77. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_077.jpg&oldid=- (Version vom 29.10.2017)