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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Englische Dichter.
1. Charles Dickens.

Die Lebensläufe großer Männer, die im gewöhnlichen Sinne glücklich waren, sind in der Regel arm an Ereignissen, an Interesse für den Dutzend-Leser, der Hunger, Verfolgung, Ketten und Kerker, Nacht und Sturm, vermummte Gestalten, von unten oder von oben plötzlich herbeispringende Götter und Göttinnen und ganz unerwartete Wendungen verlangt mit poetischer Gerechtigkeit auf der letzten Seite. Shakespeare, der größte Genius seiner und aller Zeiten, hat kaum eine Biographie, denn viele romantische Ereignisse, die man von dem jungen Fleischergesellen Shakespeare findet, sind Dichtung. Das Wahre seines äußerlichen Lebens, wovon man wirkliche Kunde hat, beschränkt sich darauf, daß er Theaterstücke schuf, Schauspieler und Direktor war, daß er Staatspapiere, Grundstücke und vermiethete Häuser besaß, in Fülle lebte und in der Fülle eines eigenen Hauses starb. Solche große Männer ohne Biographie in der Dichtkunst sind selten. Sie wurden erst neuerdings Mode. Die Lebensbeschreibungen der meisten ältern Dichter bestehen aus Anhäufungen allerlei Elends. Milton’s Blindheit, Drydens Kampf mit einem armseligen Leben, Pope’s körperliche Entstellung, die Verfolgungen gegen Defoe, Swift’s Spleen und Geiz, Dante’s tragisches Weh, die Liebes- und Lebenskrankheiten Petrarka’s und Tasso’s, die Vernachlässigungen, unter denen Cervantes brach, Camoens durch’s Leben bis zum Todtenbette im Armenhospitale gesetzt, die Verzweiflung Butler’s, Chatterton’s Selbstmord, Schiller’s Riesenkampf unter Entbehrungen und gegen eine langsam tödtende Krankheit – das sind die romantischen und rührenden Stoffe, aus denen in mannichfaltigen Mischungen das Leben großer Dichter gewoben war. Vielleicht hat neuerdings die Größe einzelner Dichter ab- und ihr Erfolg und Lebensglück zugenommen. Wir finden die meisten Literaten und Dichter der Gegenwart, auch ganz kleine Lichter, in erträglichen Verhältnissen, wenigstens nicht mehr so häufig in Dachkammern bei Wasser und Brot, mit einer leeren Weinflasche als Leuchter. Keine himmelstürmenden Titanen mehr, zerstören sie sich auch nicht mehr so häufig die Bedingungen irdischer Existenz. Und das Volk hat lesen gelernt und liest gern, Gereimtes und Ungereimtes. Hand- und Dampfpressen verlangen entsetzlich viel Speise. Dafür geben sie den Dichtern und Literaten Brot, so viel, daß sie ohne beißende Sorgen in Mußestunden auch wohl noch ein unabhängiges Dichtwerk in Versen oder Prosa zusammen, zu Ende und zu einem Verleger bringen.

Diese Dichter leben und sterben denn mit der Zeit, ohne eine Biographie zu hinterlassen. Wir beklagen das nicht. Kein Mensch lebt der Biographie wegen, sondern um seiner selbst willen. Fast jeder Literat hat heut zu Tage Leibrock und Handschuhe und Visiten- und Einladungskarten am Spiegel. Wo sollte unter solchen Umständen die Biographie herkommen?

Talent und Erfolg! das ist im Allgemeinen der biographische

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 73. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_073.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)