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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

„Und was soll ich ihr sagen?“ fragte Hanne mit heiserer Stimme.

„Sagen Sie ihr, was ich Ihnen eben mitgetheilt habe und sie solle sich einen andern suchen. Und nun gute Nacht!“

Die Frau blieb stehen und sah dem Davoneilenden mit einem Blicke entsetzlicher Wuth und Verzweiflung nach. – Wieder betrogen! stöhnte sie. – Nun nimmt es ein Ende.

Als sie am andern Morgen ihre Dienstleistungen bei Heinemann’s verrichtet hatte, sagte sie: „Ich wollte auch Lebewohl sagen; ich muß nämlich eine kleine Reise in Erbschaftssachen antreten; ich darf das nicht versäumen. Die Tochter meiner Wirthin wird die Aufwartung für mich besorgen. Bleiben Sie gesund und wohl und behalten Sie mich in gutem Andenken.“

„Nun, Sie thun ja, als nähmen Sie auf ewig Abschied,“ meinte Levi.

„Ich denke, nicht auf ewig,“ erwiederte Hanne.

Veilchen, bleich wie eine Lilie, reichte ihr stumm die Hand und sah sie mit einem Blicke an, als verstände sie vollkommen, was jene meine.

Als Hanne die Thüre hinter sich schloß, schluchzte sie laut auf.

Nachmittags eilte Moses sehr verstört nach Hause. Er grüßte Veilchen leise, die nähend am Fenster saß, setzte seinen Hut hin und stellte sich an das andere Fenster. Nach einiger Zeit erst wagte er einen halben Blick auf das Mädchen zu werfen; er schien aus ihrem Anblicke Muth geschöpft zu haben.

„Veilchen,“ sagte er mit zitternder Stimme und trat einen Schritt auf sie zu. – „Ich muß von andern Leuten erfahren, daß Du liebst, und daß es der Sohn unsres“ –

Sie hatte sich bei der Anrede von der Arbeit aufgerichtet; eine glühende Röthe überzog ihre blassen Wangen; sie stieß einen Schrei aus und hielt die Hände vor das Gesicht.

„Ruhig, liebes Kind; ich mache Dir ja keinen Vorwurf. Du wußtest nichts von dem unseligen Handel, und Du hast keine Mutter, der Du Dein Herz öffnen konntest. Doch nun, da ich es einmal weiß, schenke mir auch Dein volles Vertrauen.“

Veilchen schüttelte wehmüthig den Kopf und erwiederte nichts; sie ging in ihr Nebenzimmer und brachte ihrem Oheim die alte hebräische Bibel.

Dieser schlug sie auf und blätterte. Da fand er Rosen, Nelken und Vergißmeinnicht, Liebesgaben von Heinrich, aber verwelkt! Es lagen auch Zettel und Briefe darin. Moses prüfte, las alles, aber sein Gesicht verdüsterte sich immer mehr. Er blätterte weiter. Plötzlich schrie er laut auf und sprang in die Höhe; in der Bibel lag eine Faltung Papiere.

In diesem Augenblicke trat Levi ein und betrachtete verwundert seinen Bruder.

„Kennst Du diese Papiere?“ rief ihm dieser entgegen und hielt sie in die Höhe.

„Die Empfangscheine von Reichardt!“ stammelte der andre.

„Nun, sei getrost, Veilchen!“ sagte Moses, seine Nichte umarmend, nahm alle Papiere aus der Bibel zusammen und verließ eilig das Zimmer.




Zwei Tage später wurde Moses zum Commerzienrath Reichardt beschieden. Er traf ihn als Sterbenden. Bei Heinemann’s Erscheinen bedeutete er den anwesenden Notar, den Geistlichen und den Arzt ihn zu verlassen und winkte jenem.

„Sie war bei mir,“ flüsterte er Moses in’s Ohr, der sich über ihn herneigte.

„Wer?“ fragte dieser.

„Nun, Ihre Hanne. Sie sagte mir, sie habe Barmherzigkeit gefunden und bedürfe nur Ihrer Verzeihung noch.“

„Hanne, meiner Verzeihung?“ wiederholte Moses verwundert.

„Sie hat mir vergeben, daß ich sie einst zum Diebstahle Ihrer Documente verlockte. Ja, ich that es, Herr Heinemann. Ich machte durch Hannen Ihre Familie unglücklich, aber sie selbst und ich wurden noch unglücklicher. Die Erscheinung der Frau hat mich recht getröstet, denn ich hoffe nun, daß Gott auch mir sich als ein gnädiger Richter erweisen und Ihre Verzeihung mir zu Theil werden wird. Nicht wahr, ich täusche mich nicht, Sie vergeben Ihrem sterbenden Feind?“

Moses war tief bewegt von dem was er vernommen. Alles ward ihm mit einemmale klar, die Möglichkeit der Entwendung, Hannen’s sonderbares Benehmen in frühern Jahren wie neulich. Er reichte dem sterbenden Manne die Hand, welche derselbe dankbar zu drücken versuchte.

„Sie sind besser als mancher Christ, Herr Heinemann. O wie konnt’ ich mich so schwer an Ihnen vergehn! Ich hab’ es gut zu machen versucht. Sie sind mein Erbe, mein Universalerbe. Ihr liebes Mädchen dauert mich; er war ihrer Liebe nicht werth.“

„Was sagen Sie? Sprechen Sie von Ihrem Sohn?“

„Nicht mehr mein Sohn. Er hat mich verlassen, der Bube. Mein halbes Vermögen hat er mit genommen. Gott wird ihn finden und züchtigen. Und nun, edler Mann, leben Sie wohl, meine Stunde kömmt. Dank Ihnen, Sie haben sie mir leicht gemacht.“

Moses drückte ihm die Hand und eilte mit schwerem Herzen nach Hause. Er fand seine Nichte bei der hebräischen Bibel sitzen. Er umarmte sie schweigend und küßte sie. Veilchen lächelte trübe und wies auf das Buch.




Wie vor siebzehn Jahren hielten die Brüder eine Todtenwacht. Auf demselben Platze wie damals ihr Vater lag heute Veilchen und das Wasser troff von ihr. Mitleidig hatte die Fluth den schönen Leib verschont und um das Haupt der Dulderin einen Kranz von Wasserpflanzen gewunden. Mit beiden Händen fest hielt sie die Bibel.




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 276. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_276.jpg&oldid=- (Version vom 12.4.2020)