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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

No. 22. 1853.
Die Gartenlaube.


Familien-Blatt. – Verantwortlicher Redakteur Ferdinand Stolle.


Wöchentlich ein ganzer Bogen mit Illustrationen.
Durch alle Buchhandlungen und Postämter für 10 Ngr. vierteljährlich zu beziehen.


Der Stadthauptmann von Lüneburg.

Historische Erzählung aus der zweiten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts.
Von
Ed. Gottwald.
(Schluß.)


Acht Monate waren bereits seit der Eroberung der Festung auf dem Kalkberge verflossen und außer jenen räuberischen Ueberfällen, durch welche die außerhalb der Ringmauern Lüneburgs liegenden Besitzungen der Stadt mehrfach gefährdet wurden, war die Ruhe im Innern derselben durch nichts gestört worden. Tag und Nacht hatten bisher abwechselnd Bürger und Soldtruppen auf den Wällen der Stadt und Festung strenge Wacht gehalten, jedoch da ein Monat nach dem andern vergangen war, ohne daß Magnus sich der Stadt genähert, so ließ auch, sicher gemacht durch den Vergleich der sächsischen Fürsten mit dem Erzfeind Lüneburgs, die ängstliche Wachsamkeit immer mehr und mehr nach, und um den durch so lange ununterbrochenen Tag- und Nachtdienst erschöpften Bürgern Erholung zu gönnen, wurden die zur Nachtwache nöthigen Posten nur von den städtischen Söldnern besetzt, und die Anzahl derselben soweit nur möglich vermindert.

So war der Tag der zehntausend Jungfrauen, der 31. October 1371, gekommen. Eine finstere Herbstnacht lag über Lüneburg, in dessen Häusern alles dem stärkenden Schlummer sich überlassen, und die Grabesstille, welche im Innern der Stadt herrschte, wurde nur selten vom Ablösungsruf der auf den Wällen wachthaltenden Kriegsleute und deren Waffengeklirr unterbrochen; je näher aber die Mitternacht rückte, je heftiger der Regen niederströmte, der mit Beginn der Dunkelheit begonnen, je seltener gab sich auf den Bastionen der Stadt und Festung ein Zeichen der Wachsamkeit kund, und bald schienen auch diese Wächter der Stadt, gleich den Bewohnern derselben, in festen Schlaf versunken.

Nur im Hause des Bürgermeisters Ulrich v. Weißenburg theilten zwei Personen das Gefühl der sichern Ruhe nicht, es war dies der Bürgermeister und Arnold Becker. Beide hielt eine ungewöhnlich seltsame Unruhe wach, und eben war der Stadtobrist im Begriff, den nächtlichen Umgang auf den Wällen zu halten, den er nie verfehlte, um Zeuge zu sein, daß es an Wachsamkeit nicht fehle, als die Thüre eines Nebengemachs sich öffnete, und Elsbeth, die junge Gattin Beckers, welche schon seit zwei Stunden der Ruhe gepflegt, bleich und verstört, in ihr Nachtgewand gehüllt, hereintrat.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 229. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_229.jpg&oldid=- (Version vom 12.4.2020)