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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

nach den Takten schmetternder, jauchzender Musik sich schwingend und drehend. – Sie sah ein Feenmärchen vor sich und in diesem – Dudley.

Das Blut drängt sich gewaltsam in die blassen Wangen. Er ist es, strahlend in Liebenswürdigkeit und überfließend von süßen Liebesworten zu der üppigen, schmunzelnden Dame an seinem Arme, deren Finger und Hals und Kopf auf das Geschmackloseste mit Gold, Emaille und Brillanten überladen sind. Sie nehmen Platz nicht weit vom Fenster. Er beugt sich mit dem Munde an ihr Ohr und sieht sie an und sie ihn wieder auf eine Weise, deren Sinn auch die Unschuld in ihrem tödtlichsten Weh ahnt. Sie glaubt ihn zu hören, die Worte klingen ihr in’s Ohr wie Dolche, deren jeder das Herz durchbohrt. Ihre Liebe ist verrathen, ihr Ideal entwürdigt – es ist wahr, was angebliche Verläumdung bis in ihre ferne, stille Heimath trug –

Sie ist fort. Das tiefste, tiefste, tödtlichste Weh in dem schönsten Gesicht, das je die Unschuld trug, drängt sich nicht mehr zitternd an die kalte, zwei verschiedene Welten scheidende Spiegelscheibe. Sie ist fort. Die bleiche, rasch aufglühende, zum letzten Male in trügerischer Jugendblüthe aufflammende Gestalt ist fort. Wohin treibt sie ihr tödtliches Weh? Wer fragt danach in der dichten, herzlosen Jagd von drei Millionen Menschen nach Brod, Gewinn, Kupfer, Silber und Gold? Verlieren sich nicht allnächtig Tausende in diesem unendlichen Gewirre ruheloser Straßen in Qualen und Leid, von denen die Welt niemals etwas erfährt, mit denen der Himmel kein Erbarmen hat und die jeden Tag der Todtengräber mit ewigem Schweigen deckt? Das schwache, schöne, unschuldige, ungekannte, wie aus Gottes Meisterhand am Gelungensten hervorgegangene Wesen hat sich verloren im riesigsten Gedränge von Menschen und Waaren und Goldhaufen und Häusern und Wohlthätigkeitsanstalten, die alle, alle verschlossen sind, meilenweit, viele Meilen weit in allen Richtungen sicher und fest und dreifach und vierfach verschlossen.




Eine Gesellschaft von Studenten der Medicin trieb sich trinkend, lachend, pfeifend, rauchend und Billard spielend in einem großen Restaurations-Zimmer herum. Ihre Kleider, der Duft ihrer Cigarren, ihre Getränke, ihr flegelhafter Uebermuth bekundeten, daß ihre Väter eben nicht lässig im Zusenden von Geldanweisungen sein mochten.

„Kömmst Du heute Abend mit in die Vorlesung, Tom?“ fragte Einer, indem er sein geleertes Glas auf den Tisch warf.

„Das versteht sich. Ich denke keine Muskel dieses Helden ununtersucht zu lassen. Er hat uns viel zu schaffen gemacht, dieser Riese, ehe wir ihn erwischen konnten.“

„Ja wahrhaftig, es wäre eine Schande, bei ihm zu fehlen. Das ausgebildetste Muskelsystem und außerdem gehangen, das kommt nicht alle Tage vor.“

„Ganz gewiß,“ setzte ein dritter hinzu, „Croß ist eine wahre Schönheit. Jede Faser an ihm ist ein Kapital für die Wissenschaft. Bei Gehangenen bilden sich namentlich die Blutgefäße musterhaft aus.“

„Wie gelehrt sich Nedschan ausdrückt! Denkst Du Dich nicht auch einmal um unsere Wissenschaft verdient zu machen? Wie wär’s, wenn Du Dich auch einmal der unschuldigen Operation einer zu engen Halsbinde vom Seiler unterwürfest?“

„Wer kann’s wissen in dieser Lotterie des Schicksals. Vorläufig haben wir an Croß genug.“

„Wir haben in unserer Klasse doch einen schönern Bissen!“ versetzte ein tornisterblonder Camerad mit einem feuerrothen Backenbarte, der ihm das Aussehen eines ältlichen, trocknen Kaufmannes, eines englischen Mustergesichts gab. „Eine Schönheit erster Klasse.“

„Ach was, wir halten’s mit dem Stricke. Niemals erwies uns der Galgen einen größern Dienst. Doch vorwärts. Es wird Zeit. Aber vergessen wir Dudley nicht!“

„Wo steckt er denn?“

„Da liegt er, wie gewöhnlich, betrunken und eingeschlafen. Ein Kerl, wie aus Theeblättern gemacht, kann schon gar nichts mehr vertragen.“

„Das kommt von den gütigen, frommen, schönen Tanten,“ erwiederte Einer. Ein schallendes Gelächter und einige Püffe weckten ihn auf. Er starrte um sich, ließ sich in die Mitte nehmen und taumelte mit den singenden, pfeifenden, rauchenden Cameraden davon.

Es war nicht weit bis zum Anatomie-Gebäude der medicinischen Lehranstalt. Sie stiegen schwere, steinerne Treppen hinauf, schritten durch lange Corridore und kamen endlich an große eiserne Doppelthüren, die sich schwerfällig öffneten. Obgleich die Fenster offen standen, durch welche der Wind dämonisch in das flackernde Kaminfeuer fuhr, füllte doch ein unvertilgbarer Verwesungsgeruch das ganze große Auditorium. Auf langen schmalen Tischen streckten sich, nachlässig mit Papier bedeckt, nackte Leichname und auf verschiedenen Seitentischen lagen zerstreut zerschnittene und „präparirte“ Glieder in gräßlicher Farbe und Verstümmelung, auf dem Fußboden und in Winkeln schmutzige Knochen und grinzende Schädel. Die Studenten bewunderten den Riesen, bis der Professor kam und zu schneiden und zu dociren anfing. Studenten und Leichen scheinen beide aufmerksam zu horchen. So oft der Professor schweigt, hört man nichts, als das eigenthümliche Geräusch der Messer und das – Schnarchen Dudley’s, der in einem Winkel eingeschlafen und vom Stuhle gefallen war.

Die Stunde geht rasch dahin. Das Feuer ist niedergebrannt, die Lichter flackern trübe, die Vorlesung ist vorüber. Alles eilt froh über die herrlichen Muskeln des Riesen davon, und der Diener schließt mit einem Ruck die Quelle der Gasflamme, schließt hastig die großen eisernen Thüren und eilt, froh, daß das Tagewerk wieder einmal vorüber ist, nach Hause.

Dudley schläft, vergessen unter Leichen, eingeschlossen in Verwesung, weiter.

Das Feuer ist erloschen. Eisiger Nachtwind überfällt den Bewußtlosen immer empfindlicher, bis er zitternd und bebend an allen Gliedern aufwacht. Er starrt um sich und besinnt sich endlich mit Mühe, in welcher Lage und Umgebung er sich eigentlich befindet. Er graspt sich, stolpernd über Knochen mühsam nach der Thür. Sie ist verschlossen. Das angestrengteste, anhaltendste Klopfen verhallt ungehört in dem Raume und in den öden Hallen draußen. Von der fürchterlichsten Kälte erlahmt, versucht er nun, das Feuer im Kamine wieder zu beleben. Doch

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 203. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_203.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)