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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

nicht der Herloßsohn. Kommst mir übrigens vor, wie ein gefangener Kanarienvogel, der nur drei Hölzchen im Käfig hat.“

Der Doctor reichte dem Freunde die Hand: „Hast Recht, alter Knabe, ein eintönig Leben – nun wer weiß, wie lang es noch dauert.“

„Dies können wir sogleich erfahren,“ meinte Lortzing, „die Gelegenheit ist günstig, Mitternacht nahe, Herr Rossi, haben sie keinen Seidenfaden?“

Rossi, der aus seinem Vorgemach herein trat, zuckte die Achseln. Endlich besann er sich auf seine neue comfortable Saft’sche Mütze. Er holte sie herbei und den gemeinschaftlichen Bemühungen gelang es, dem Prachtstück einen halbelligen Seidenfaden zu entwinden.

„Was soll denn das werden?“ frug Berthold und auch der Doctor schaute neugierig auf.

„Ein Orakel,“ belehrte Lortzing. Er nahm einen goldenen Ring vom Finger, durch welchen er den Faden zog, so daß der Ring daran in der Luft schwebte.

„Hokus Pokus,“ sprach Berthold.

„Es giebt Vieles zwischen Himmel und Erde, wovon sich unsre Philosophie nichts träumen läßt,“ sprach Lortzing ernst. Dann hielt er den an dem Seidenfaden schwebenden Ring ungefähr einen halben Zoll von der Außenseite des Weinglases. „Nun paßt auf,“ fuhr er fort, „ich frage jetzt das Orakel und wünsche zu wissen, wie viel Jahre ich noch hienieden leben werde. Der Ring wird mir durch unterschiedliches Anschlagen die Anzahl der Jahre nennen.“

„Närrisch Zeug,“ meinte Berthold, doch schaute er unverwandt nach dem Orakel.

Der Ring fing sich nach einiger Zeit in Folge der Blutströmung zu bewegen und drehen an. Die Schwingungen wurden immer größer, so daß er endlich die Glasfläche erreichte. Er klingte an, erst ganz leise, dann vernehmlicher. Deutlich zählte man eilf Schläge, worauf die Schwingungen wieder kürzer wurden, so daß das goldne Orakel das Glas nicht mehr erreichte.

„Also noch eilf Jahre,“ sprach Lortzing, mit ziemlich gut gelaunter Resignation, „da kann ich noch viel Opern schreiben.“

Berthold schüttelte sceptisch mit dem Kopfe. „Dummes Zeug,“ sprach er, „das muß doch ganz auf Dich ankommen, wie vielmal der Ring anklingen soll?“

„Versuch’s nur,“ erwiederte Lortzing, „da wirst Du ja sehen, ob es in Deiner Macht steht oder nicht.“

„Der Doctor mag’s erst machen,“ sprach der corpulente Zweifler.

Herloßsohn, bei welchem der edle Rebensaft bereits mehr in’s Blut gegangen sein mochte als bei den Andern, ergriff jetzt den Faden und Ring; aber kaum hatte er die Hand in die gehörige Lage gebracht, als der Ring auch schon zu läuten anfing.

„Der kann’s,“ lachte Berthold, „mein Gott, kommen da Cometenjahrgänge zum Vorschein.“

Als das Anklingen bei Herloßsohn auch gar kein Ende nehmen wollte – die Freunde hatten schon in die dreißig gezählt – sprach Berthold: „Das hört gar nicht wieder auf; ich glaube, der muß einmal speciell auf Befehl des durchlauchtigsten deutschen Bundes getödtet werden, sonst kommt er nicht von der Erde.“

Nach dem Lortzing’schen Ringorakel ward der Redacteur des Cometen gerade hundert Jahre alt.

„Mein Großvater ist auch in die neunzig geworden,“ motivirte der Doctor, dem die lange Lebensperspective trotz des häufig ausgesprochenen Lebensüberdrusses gar nicht unangenehm erschien.

„Da würd’ ich aber auf jeden Fall noch heirathen,“ sprach Lortzing; „noch achtundfunfzig Jährchen, ein hübscher Zeitraum.“

„Natürlich,“ stimmte Berthold eifrig bei, „heirathen muß er; erstens sehe ich nicht ein, warum wir beiden allein im Joche traben sollen – was er voraus haben will und zweitens sagt Herr von Goethe:

In raschen Jahren geht’s wohl an –
Doch kommt die böse Zeit heran,
Und sich als Hagestolz allein zu Grab zu schleichen,
Dies hat noch keinem wohlgethan.

„Jetzt ist Berthold an der Reihe,“ sprach Lortzing und ertheilte demselben Unterricht, wie er Faden und Ring zu halten habe.

„So alt, wie dieser Methusalem werde ich auf keinen Fall,“ sprach der Opernsänger und fing an das Orakel zu befragen. Lag es nun in dem dickern Blute des Letzteren oder in seinem phlegmatischen Temperamente, er mochte noch so vorschriftmäßig halten, der Ring rührte und rückte sich nicht.

„Der Kerl hängt wie todt,“ begann endlich der Orakelnde; „ich glaube, Ihr bringt mich gar nicht lebendig nach Hause. Rossi kann mich gleich hier begraben lassen. Was hilft mir mein Urlaub.“

Nach einer Pause fuhr er fort, „Wenn der Racker nur wenigstens so lange anklänge, bis ich vollkommen pensionsfähig wäre.“

Berthold ward endlich ungeduldig und rückte mit den Worten: „Wird er wackeln!“ ein Wenig mit der Hand. Der hierdurch in Bewegung gesetzte Ring schlug dreimal an das Glas, worauf er in seine alte Ruhe versank.

„Schon alle?!“ – frug der Orakler, „das war verflucht wenig, Herloß, Du könntest mir ein paar Jahrzehnte ablassen, für Geld und gute Worte.“

Lortzing nahm jetzt lächelnd dem Freunde das Orakel aus der Hand. „Du hast den Glauben nicht,“ sprach er, „bei einem so ungläubigen Thomas wie Du wird sich der Ring nicht incommodiren.“

„Na, gute Worte geb’ ich nicht“ meinte Berthold und schlürfte mit aller Behaglichkeit sein Glas aus.

Die Glocken der Mitternacht tönten jetzt von Leipzigs Thürmen. Man kam zur vierten Studie. Ein herrlicher Vierunddreißiger Johannisberger flimmerte in den Gläsern.

„O schöner Brunnen, der uns fließt,“ lispelte Berthold selig. Herloßsohn aber erhob begeistert sein Glas. „Diese himmlische Blume,“ sprach er, „bringe ich dem neuen Frühling. Möge er herabsinken mit seinen Blüthen und Goldgewölken, liebend und segnend auf die Geschlechter der Erde. –

Lortzing erhob sein Glas: „Alle jungfräuliche Blumen sollen leben und alle blumige Jungfrauen.“

Berthold hielt mit gefalteten Händen seinen Römer umklammert und schlürfte den Göttertrank. „O Königin,“ sprach er, „das Leben ist doch schön!“

Herloßsohn sprach, „Brüder, wir sind so glücklich,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 169. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_169.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)