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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

haben wir's versucht, Handwerker-Institute zu gründen, aber sie wollten niemals recht gedeihen."

"Ist denn keine Schule im Kirchspiel?"

"Ja wohl, wir stehen eben davor."

Das ist ein altes Gemäuer, eingepfercht zwischen andern Mauern, düster, unheimlich, raumbeengt. Zur ebenen Erde eine Art Kleinkinderbewahranstalt, wo die Kleinen sich gähnend die schmutzigen Nasen reiben, oder in den schlechtgepflegten Haaren kratzen. Elementarschüler - daß Gott erbarm’ - im ersten Stockwerk. Und darüber unter’m Dach eine breite, lange, niedrige, lichte Stube, das ist die höchste Classe, die sogenannte ragged school (die Lumpenschule).

"Verhüt’ es der Himmel," seufzt Herr Bradelle, "daß alle diese Jungen Weber, und all’ diese kleinen Mädchen ihre Weiber werden. Wir vermehren uns nicht allzusehr - fährt er nach einer Pause fort - der Eine wird Soldat, der Andere Matros, und Mancher wandert aus. Und die Eltern dieser Kinder! Wollen Sie ein Stück Elend sehen? Treten Sie mit mir in diesen Thorweg ein."

Eine enge Wendeltreppe hinauf, wie man sie in Lyon und in den ältesten Stadttheilen von Edinburg sieht - ein Strick als Geländer - statt der Teppiche Schmutz - Gestank statt der Luft - eine wacklige Thüre - kein Schloß - eine graue nackte Stube - vier Webstühle - vier Menschen, von denen drei emsig arbeiten - wir sind am Ziele.

Ein blasser hohläugiger Mann, der in Hemd und Unterhosen arbeitet, läßt seinen Webstuhl bei unserem Eintritt stille stehen. Er ist der Herr der Stube, ein Irländer von Geburt.

"Guten Morgen, Meister!"

"Guten Morgen, Gentlemen!" und fährt mit einem löchrigen, abgeschossenen Cattuntuch über sein unrasirtes Kinn und den mächtig hervorspringenden Kehlkopfsknorpel.

"Wir wandern eben durch Spitalfields. Wollt Ihr uns erlauben, Eure Arbeit anzusehen?"

"O gewiß."

"Ihr habt da etwas Schönes eingespannt. Schwarzen Sammet, he?"

"Ja, Herr. Und jedesmal, wenn ich das Schiffchen werfe, schneid' ich hier den Draht ab und leg’ ihn dort wieder ein. So - - jetzt können Sie’s sehn." - Der Stuhl rauscht und knarrt, der Arbeiter sieht uns mit seinen hohlen Augen an.

"Das ist eine langsame Arbeit."

"Ja wohl langsam." - Wieder ein Blick auf uns, und dabei ein rauher, trockener Husten.

"Und auch eine schwere Arbeit?"

"Ja wohl schwer" - und wieder der schreckliche Hustenton. Nach einer Weile, als er bemerkt, daß uns seine Arbeit interessirt, hält er wieder inne, und die Hand auf die schmale Brust legend, sagt er mit forcirter lauter Stimme - denn er ist gewohnt, das Klappern seines Webstuhls zu überschreien -

"Das greift die Brust an, meine Herren, so seine vierzehn bis fünfzehn Stunden in Einem fort vorwärts gebeugt liegen."

"Arbeitet Ihr denn so lange?"

"Glücklich, wenn ich kann. Ein Tagwerk, wie das hier, ist seine drei Schilling werth."

"Also achtzehn Schilling die Woche?"

"Ja, wenn’s immer wär’! Aber’s ist nicht immer. Eine Woche in die andere gerechnet, kommen auf jede wohl zehn Schilling bis zehn Schilling und sechs Pence."

"Ist das Mr. Bradelle’s Stuhl?"

"Ja Herr, und der andere auch, der dort feiert."

"Und der zweite, an dem Ihr Kamerad arbeitet?"

"Gehört einer andern Partei. Der junge Mensch zahlt mir einen Schilling wöchentlich, daß ich ihn bei mir arbeiten lasse, und der Schilling kömmt bei der Hausmiethe zu gut. Ist nicht wohlfeil meine Herren. Eine halbe Krone (21/2 Schill.). Aber dafür ist die Stube auch groß --"

"Und am andern Stuhl? Ist das Ihre Frau?"

"Ja, das ist mein Weib. Sie arbeitet in ordinäreren Sorten, für Hauben und dergleichen."

Und wieder klappert und schnarrt der Webstuhl. Und wieder liegt der hagere Mann über den Holzcylinder gebeugt.

Am Fenster neben ihm hängt ein alter Vogelbauer mit einem Zeisig darin. Der schreit und zwitschert, wenn der Webstuhl in Bewegung gesetzt wird, und schweigt, wenn Letzterer stille steht. Wahrscheinlich ist der Webstuhl seinen Ohren ein musikalisches Instrument. Das Fenster selbst, schlecht verschlossen und nothdürftig mit Papier verklebt, gewährt eine weite Aussicht über die Dächer der Nachbarschaft, über Ziegel, Giebel, Erker, Rinnen und ein Labyrinth von thönernen Schornstein-Aufsatzröhren. Mühsam winden sich die Strahlen der blassen Londoner Lügensonne durch alle diese Hindernisse, die ihr im Wege stehen, in Rauch und Nebeldunst bis zum schmalen Fenster hin. Ein vereinzeltes Strahlenbüschel hat eben den Weg in die Stube gefunden; es gleitet über das fahle Angesicht des Webers, um es noch fahler zu machen, und wirft ein Lichtbild, das sich wie ein Lanzenschaft ansieht, auf den holprigen Bretterboden.

Unsre Athmungsorgane fangen allmälig an, die Wirkung der eingesperrten, dumpfen Luft zu spüren. Und doch sind wir kaum zehn Minuten in der Stube! Das mögen zum Theil auch die Bettstücke machen, die in einem Winkel über einander liegen. Daneben der Kamin, ein, zwei Stühle, ein Kohlenbehälter, ein Wasserkessel, ein lederner Krug. Wo sollten auch Bettstellen und andere Möbel stehn, selbst wenn sie der Weber besäße? Die Webstühle, als Nährväter der Familie, nehmen jeden Fuß breit Raum für sich in Anspruch, und haben ihn auch. Wie böse Zauberer, die Gold und Schätze liefern, müssen sie durch alle möglichen Aufmerksamkeiten beschwichtigt werden; und müssen die Kinder - dieser unförmliche, wasserköpfige Säugling z. B. den sein älterer Bruder im Arm hält - sich von ihnen in die Ecke drängen lassen, mögen sie im Gang sein oder nicht. Nur des Nachts gestatten die stillstehenden Ungeheuer, daß die Kinder zwischen ihrem hölzernen Untergestelle ruhen. Die klappernden Töne der Webstühle begrüßen sie, wenn sie aus dem Mutterleibe kommen, und sind oft ihr Grabgeläute.

"Haben Sie noch andere Kinder außer diesen beiden?" fragen wir die Frau, die emsig fortgearbeitet hat.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_016.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)