Wurde in den leiblichen Vorgängen das Keimplasma zur Ursache, die das am latentesten in uns Gebliebene steigernd auf alles zurückwirken läßt, so wird hier die geistig eingehendste Liebe der gleiche Anlaß, in uns das lebenwirkend zu lösen, was in unsrer eignen Entwicklung nicht mitvorgesehn war. Der Affektrausch, den der physische Erregungsgrund entband, erscheint darin fast völlig aufgebraucht zu solchem positiven Schaffen neuer seelischer Tatbestände. Und durch nichts beweist er, der ursprünglich wahnbildende, sich so als Leben, wie daß er auch dabei noch nicht stehn bleiben mußte, zwei Menschen zu einen in sich und im Kind, sondern in jedem von ihnen sogar wiederum jene Zweiheit hervortreibt, die allem Werden schöpferisch eingesenkt ist, auf daß es über sich hinaus wachse. Zum ersten Mal erstrebt er hier selbständig seine geistige Gegenleistung für dieses „über sich hinaus“, für das Kind. Darum, wenn schon physische Liebesekstase, durch ihre alles in uns einigende Kraft, ein Glücksempfinden in sich selber trägt, so kann dies letzte, seltenste Liebeserleben
Lou Andreas-Salomé: Die Erotik. Frankfurt am Main 1910, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Erotik_(Andreas-Salome).djvu/54&oldid=- (Version vom 18.8.2016)