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Die Demokraten aller Länder sinnen daher auch vergeblich auf die verschiedensten Palliativmittelchen. Man versucht es mit dem Referendum und findet, daß es nichts taugt. Man spricht von der Proportionalvertretung, der Vertretung der Minoritäten – und andern parlamentarischen Utopien. – Man müht sich, mit einem Wort, mit der Suche nach etwas Unfindbarem ab. Man ist gezwungen, anzuerkennen, daß man sich auf falschem Wege befindet, und das Vertrauen zu einer Repräsentativregierung schwindet.

Ebenso steht es mit dem Lohnsystem: denn, nachdem man die Abschaffung des Privateigentums und das Gemeindeeigentum an den Produktionsmitteln erklärt hat, wie kann man da noch die Aufrechterhaltung des Lohnsystems in der einen oder anderen Form fordern? Und dennoch tun es die Kollektivisten, indem sie die Arbeitsbons predigen.

Man begreift, daß die englischen Sozialisten am Anfange dieses Jahrhunderts zu der Erfindung der Arbeitsbons kommen konnten: Sie suchten eben eine Harmonie zwischen Kapital und Arbeit herzustellen. Sie verabscheuten jeden Gedanken, gewaltsam an dem Eigentum zu rütteln.

Wenn später Proudhon diese Erfindung aufnahm, so ist uns auch dies noch begreiflich. In seinem mutualistischen System suchte er das Kapital weniger offensiv zu machen. Er behielt das individuelle Eigentum, das er im Grunde seines Herzens verabscheute, bei, aber nur, weil er es als Schutz des Individuums gegen den Staat für notwendig hielt.

Daß die mehr oder weniger bürgerlichen Oekonomisten gleichfalls die Arbeitsbons akzeptieren, setzt uns keineswegs in Erstaunen. Es ist ihnen gleichgültig, ob der Arbeiter in Arbeitsbons oder in klingender Münze mit den Bildnissen der Republik oder des Kaisertums bezahlt wird. Ihnen ist nur daran gelegen, daß in dem kommenden Zusammensturz das individuelle Eigentum an den Wohnhäusern und dem industriellen Kapital auf jeden Fall gerettet wird. Und um dieses Eigentum zu retten, werden ihnen die Arbeitsbons sehr gute Dienste leisten.

Vorausgesetzt, daß der Arbeitsbon gegen Edelsteine und Equipagen ausgetauscht werden kann, wird ihn der Hauseigentümer gern bei der Mietszahlung entgegennehmen. Und solange das Wohnhaus, das Feld und die Fabrik isolierten Eigentümern gehören, wird auch ein Zwang bestehen, letztere in irgend einer Weise dafür zu bezahlen, daß man auf ihren Feldern oder in ihren Fabriken arbeiten oder ihre Häuser bewohnen kann. Der Zwang wird der gleiche sein, ob die Zahlung in Gold, Papier, Geld oder Arbeitsbons, gegen die man jede Ware eintauschen kann, erfolgt.

Wie kann man aber diese neue Form des Lohnsystems – den Arbeitsbon – verteidigen, wenn man annimmt, daß das Haus, das Feld, die Fabrik nicht mehr Privateigentum sind, daß sie der Kommune oder der Nation gehören?

II.

Betrachten wir einmal dieses Entschädigungssystem, wie es von den französischen, deutschen, englischen und italienischen Kollektivisten gepredigt wird, ein wenig näher.

Empfohlene Zitierweise:
Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, Bernhard Kampffmeyer (Übersetzer): Die Eroberung des Brotes. Der Syndikalist, Berlin 1919, Seite 126. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Eroberung_des_Brotes.pdf/142&oldid=- (Version vom 3.6.2018)