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erfordert. Jedoch, während man sich in den exakten Wissenschaften über viel weniger wichtige und komplizierte Gegenstände nur nach den gewissenhaftesten Forschungen ausspricht, sorgsam und fleißig Belege sammelt, die Tatsachen sorgsam prüft – begnügt man sich hier mit einem beliebigen Faktum – z. B. mit dem Fehlschlagen des Planes einer kommunistischen Gemeinde in Amerika, und zieht daraus die wichtigsten Schlußfolgerungen. Man macht es wie der Advokat, der in dem Advokaten der Gegenpartei nicht den Repräsentanten einer Ansicht sieht, sondern nur einen einfachen Gegner im Redestreit, und wenn man nur glücklich genug ist, eine Parade zu finden, dann bekümmert man sich nicht weiter darum, was wahr oder unwahr ist.

Dies ist auch der Grund, weswegen das Studium, auf dem die gesamte politische Oekonomie beruht, – das Studium der günstigen Bedingungen, unter welchen der Gesellschaft die größtmöglichste Menge nützlicher Güter bei einem möglichst geringen Verlust von menschlichen Kräften gesichert sein kann – keine Fortschritte macht. Man beschränkt sich auf diesem Gebiete damit, Gemeinplätze zu wiederholen, oder man schweigt sich aus.

Was diese Leichtfertigkeit um so frappierender macht, das ist der Umstand, daß man selbst schon in der bürgerlichen politischen Oekonomie Schriftsteller findet, die durch die Macht der Tatsachen dazu geführt werden, jenes Axiom der Begründer ihrer Wissenschaft, jenes Axiom, nach welchem die Furcht vor dem Hunger das stärkste Mittel sei, um den Menschen zu produktiver Arbeit zu veranlassen, in Zweifel ziehen. Sie fangen an, einzusehen, daß in der Produktion ein gewisses kollektives Moment mehr und mehr Geltung gewinnt, ein Moment, das bis heute wenig berücksichtigt geblieben ist, das aber von größerer Wichtigkeit und Triebkraft als die Aussicht auf persönlichen Gewinn werden kann. Die schlechte Qualität der Lohnarbeit, der erschreckende Verlust menschlicher Arbeitskraft bei den Arbeiten der modernen Landwirtschaft und Industrie, die immer wachsende Anzahl von Müßiggängern, welche den Anderen wieder zur Last fallen, das Fehlen jedes frischen Lebenshauches in der Produktion, – alles dieses beginnt schon die Oekonomisten der „klassischen Schule“ zu beschäftigen und stutzig zu machen. Einige von ihnen fragen sich schon, ob sie nicht einen Fehlschluß machen, wenn sie auf den Menschen als ein Wesen schließen, das ein Ideal von Häßlichkeit ist, welches ausschließlich durch die Hoffnung auf Gewinn und Lohn geleitet wird. Diese Ketzerei dringt selbst schon in die Universitäten: man wagt sie schon in den Büchern der ökonomistischen Orthodoxie zu äußern. Doch alles dieses verhindert eine sehr große Anzahl sozialistischer Reformatoren keineswegs, Anhänger der individuellen Entschädigung zu bleiben und die alte Zitadelle des Lohnsystems zu verteidigen, selbst in dem Augenblick, wo die früheren Verteidiger sie schon Stein für Stein den Stürmenden überlassen.

Man fürchtete also, daß die Masse ohne Zwang nicht arbeiten wird.

Haben wir nicht in der Geschichte schon zu wiederholten Malen diese Befürchtung aussprechen hören – seitens der Sklavenhalter der Vereinigten Staaten vor der Befreiung der Neger, und seitens der russischen Adligen vor der Befreiung der Leibeigenen? – „Ohne Peitsche

Empfohlene Zitierweise:
Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, Bernhard Kampffmeyer (Übersetzer): Die Eroberung des Brotes. Der Syndikalist, Berlin 1919, Seite 111. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Eroberung_des_Brotes.pdf/127&oldid=- (Version vom 17.8.2017)