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DIE FREIE VEREINBARUNG.

I.

Durch erhebliche Vorurteile, durch falsche Erziehung und Belehrung gewöhnt, überall nur die Regierung, die Gesetzgebung und die Magistratur zu sehen, sind wir zu dem Glauben gekommen, daß die Menschen sich wie wilde Tiere zerreißen würden an dem Tage, wo der Polizist nicht mehr sein Auge auf uns gerichtet hält, daß das Chaos eintreten würde, wenn die Autorität in einer Sturmesflut versinken würde. Und doch stehen wir, ohne uns dessen bewußt zu werden, tausend und abertausend menschlichen Gruppierung gegenüber, die sich in freierer Weise gebildet haben und bilden – ohne die Intervention eines Gesetzes, und die unendlich viel Höheres vollbringen, als solche, die unter gouvernementaler Oberherrschaft zu Stande kommen.

Schlagt eine täglich erscheinende Zeitung auf. Ihre Seiten sind fast einzig den Regierungsakten, dem politischen Ränkespiel gewidmet. Beim Lesen einer solchen würde ein Chinese glauben, daß in Europa nichts ohne den Befehl eines Herrn geschieht. Zeiget mir in derselben etwas, welches das Entstehen und Wachsen irgend welcher Institutionen behandelt, ohne daß es auf ministerielle Erlasse zurückgeführt würde! Nichts, rein gar nichts werdet Ihr finden! Wenn es selbst in dem Blatte eine Rubrik „Verschiedenes“ gibt, so kommt das nur daher, weil dieses „Verschiedenes“ in irgend einem Zusammenhang mit der Polizei steht. Ein Familiendrama, ein Empörungsakt wird nur erwähnt, wenn die Stadtsergeanten dabei in Tätigkeit traten.

350 000 000 Europäer lieben oder hassen sich, arbeiten oder leben von ihren Renten, leiden oder genießen. Doch ihr Leben, ihre Handlungen (abgesehen von der Literatur, vom Theater, vom Sport), alles wird in den Journalen ignoriert, wenn nicht die Regierungen in der einen oder anderen Weise sich eingemengt haben.

Ebenso verhält es sich mit der Geschichte. Wir kennen die geringsten Einzelheiten aus dem Leben eines Königs oder Parlaments; man hat uns alle Reden aufbewahrt, gute wie schlechte, die in den Parlamenten gehalten worden, „die indes nie einen Einfluß auf die Abstimmung eines Mitgliedes ausgeübt haben“, wie uns ein alter Parlamentarier versichert hat. Die Besuche der Könige, die gute oder schlechte Laune des Politikers, seine Wortspiele und seine Intriguen, alles dieses wird der Nachwelt sorgsam überliefert. Aber wir haben undenkliche Mühe, um

Empfohlene Zitierweise:
Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, Bernhard Kampffmeyer (Übersetzer): Die Eroberung des Brotes. Der Syndikalist, Berlin 1919, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Eroberung_des_Brotes.pdf/114&oldid=- (Version vom 3.6.2018)