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Anonym: Edda

Schuld gab, hinreichend begründet; des Vorwurfs, daß Gunnar Oddrun verführt habe, bedurfte es nicht. Auch für den Ritt der Giukungen zu Atli reicht der Beweggrund aus, welchen die echte Sage berichtet, daß sie auf ihres Schwagers Einladung die Schwester zu besuchen kamen: um Oddruns Willen, wie das Lied anzunehmen scheint, brauchten sie nicht dahin zu fahren. Der Verfaßer des Mords der Niflunge, der doch Oddruns Klage zu kennen scheint, hat auch dieses Motiv ihrer Fahrt nicht herausgelesen, da er nach den beiden Atliliedern berichtet, Gunnar habe sich schon vor derselben mit Glömwör, wie Högni mit Kostbera, vermählt. Auffallend ist aber, daß das dritte Sigurdslied in dem letzten Theile Str. 56 das Verhältniss Gunnars zu Oddrun kennt. W. Grimm vermuthet daher, daß diese Str. 56 unecht, und erst durch unser Lied in Brynhilds Weißagungen gekommen sei. Mit der Unechtheit jener Str. erklären wir uns einverstanden, aber aus unserm Liede scheint sie nicht entlehnt, da nach ihm das Verhältnis Gunnars zu Oddrun älter sein soll als seine Verbindung mit Brynhild, während jene Str. 56, die im Munde der sterbenden Brynhild liegt, es als ein Zukünftiges ankündigt, das erst nach ihrem Tode eintreten soll, wie es auch Drâp Niflunga auffaßt. Wahrscheinlich fand also der Dichter unseres Liedes die unechte Strophe schon vor, auf die er Str. 21 in den Worten „wie Brynhild sollte,“ anzuspielen scheint, und auf die er dann fortbaute und einen kleinen Roman gründete, der seine Erfindungsgabe sehr in Anspruch nahm, und doch nicht ganz befriedigend ersonnen ist. Manche Einwendung fällt zwar durch die neue Anordnung des Textes, in der wir S. Bugge gefolgt sind, zu Boden; andere Bedenken aber bleiben unerledigt. Nach Brynhilds Tode blieb Oddrun wie es scheint an Giukis Hofe und verließ ihn auch dann nicht, als Gunnars Werbung keinen Erfolg hatte; vielmehr ging sie jetzt heimliche Buhlschaft mit ihm ein, bei der sie von Atlis Spähern überrascht wurde. Diese hinterbringen dem Atli Alles, verhehlen es aber der Gudrun, die also schon mit ihm vermählt war. Hier fragen wir uns nun, warum warb Gunnar nicht um Oddrun, als Atli um Gudrun anhielt? Damals konnte er ja seine Einwilligung in Gudruns Vermählung mit Atli davon abhängig machen, daß dieser in seine Verbindung mit Oddrun willigte. Und warum forderte Atli, statt Oddrun durch seine Späher belauschen zu laßen, nicht lieber ihre Heimkehr, da nach dem Tode ihrer Schwester Brynhild zu ihrem Aufenthalt an Giukis Hof kein Grund mehr war? Auf diese Fragen giebt der Dichter keine Antwort. Ohne Atlis Einladung zu erwähnen läßt er sogleich die Giukungen an Atlis Hof reiten, wo dieser die bekannte grausame Rache an

Empfohlene Zitierweise:
Karl Simrock (Hrsg.): Die Edda, die ältere und jüngere, nebst den mythischen Erzählungen der Skalda, 6. Aufl., Stuttgart 1876, Seite 449. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Edda_(1876).djvu/457&oldid=- (Version vom 31.7.2018)