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Anonym: Edda

Mitten zwischen den beiden Hälften der Str. 35 nehmen die Erklärer eine Lücke an, oder laßen Gudrun die Vermählung mit Atli und die Ermordung ihrer Brüder als dem Dietrich schon bekannt übergehen; die Wölsungasaga c. 41 schiebt wenigstens erstere hier ein. Nothwendig scheint uns keins von beiden. Gudrun kommt schlafend in Atlis Burg an; Atli, der sie erweckt, erfährt sogleich, welche Träume sie beängstigt haben. Dieß veranlaßt ihn, auch seine Träume mit dem Wunsch zu erzählen, daß sie eine günstige Deutung zulaßen möchten. Den ersten, welcher seine Ermordung von Gudruns Hand unverhüllt ausspricht, weiß sie ohne ihre Abneigung zu verbergen doch beruhigend auszulegen; die andern, deren Sinn nicht so zu Tage liegt, deutet sie auf die Ermordung seiner und ihrer Kinder, ohne deren Mörder zu bezeichnen. Seit diesem Gespräch mit Atli, dessen sich Gudrun nach dem Fall ihrer Brüder erinnert, müßen bis zu dem Tage, wo ihr dieß Lied in den Mund gelegt wird, Jahre verstrichen sein, denn es geschieht unmittelbar nach ihrer Ankunft in Atlis Burg; nun aber, da sie sich im Trotze des Rachegefühls vornimmt (Str. 42) Atlis Träume in Erfüllung zu bringen, hat sie schon lichtgelockte Söhne mit ihm erzeugt, sonst wäre dieser Vorsatz (So will ich thun) undenkbar. Zwischen den Fall ihrer Brüder und die Ausführung der Rache fällt also dieses Lied wie vielleicht auch das folgende.


32. Das dritte Gudrunenlied.

Nach der deutschen Sage ist Erka oder Helche, die geschichtliche Kerka des Priscus, Etzels erste Gemahlin, nach deren Tode er sich Kriemhilden, der Wittwe Siegfrieds, also der eddischen Gudrun vermählt. In unserm Liede finden wir aber Gudrun neben Herkia, die jedoch zur Magd Atlis herabgesunken ist. Gleichwohl wird auch sie aus der deutschen Sage eingedrungen sein, zumal neben ihr Dietrich erscheint wie schon im vorigen Liede. Zwar wißen die deutschen Lieder von der hier erzählten Begebenheit so wenig als von einem zärtlichen Verhältniss Dietrichs zu Kriemhilden, auch ist das Gottesurtheil des Keßelfangs, obgleich in Deutschland früher heimisch, doch dem Norden nicht fremd geblieben, da es nach R. A. 922 in der Graugans erwähnt wird; aber eine deutliche Beziehung auf unsere Heldensage ist es, wenn von Dietrich Str. 5 gesagt wird, er sei mit dreißig Mannen zu Atli gekommen, und nicht einer lebe ihm mehr von allen dreißigen. Denn nach den deutschen Liedern kam Dietrich mit etwa so viel Mannen (das Gedicht von der Flucht nennt drei und vierzig) zu Atli, und verlor sie, wie wir in den Nibelungen sehen, während eines dreißigjährigen

Empfohlene Zitierweise:
Karl Simrock (Hrsg.): Die Edda, die ältere und jüngere, nebst den mythischen Erzählungen der Skalda, 6. Aufl., Stuttgart 1876, Seite 447. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Edda_(1876).djvu/455&oldid=- (Version vom 31.7.2018)