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Anonym: Edda

Über Werth und Charakter unseres Liedes sind sehr verschiedene Urtheile gefällt worden. Einige haben es für ein Spottlied voll lucianischen Witzes, wohl gar für das eines Christen auf die heidnischen Götter gehalten. Dagegen findet Köppen, der es für ein echt heidnisches Lied erklärt, seinen Grundton tief tragisch. Jene furchtbare Zerrißenheit, welche dem Untergang vorhergeht, habe sich der Götter bemeistert und diese werde unnachahmlich schön geschildert, so daß man nicht umhin könne, das Gedicht für eins der tiefsinnigsten und best ausgeführten zu erklären. Die Wahrheit liegt wohl auch dießmal in der Mitte. Von einem tieftragischen Grundtone des Liedes kann man wohl so wenig als von seinem großen Tiefsinn sprechen, eher noch von einer schon ziemlich leichtfertigen Reflexion über die Götter, die nicht mehr die beste Zeit verräth. Der Untergang der Asen, den auch dieß Lied behandelt, lag zwar schon früh in dem Gefühl der Nordbewohner, und die Ahnung, daß sie an ihrer eigenen Schuld zu Grunde gehen, spricht bereits die Wöluspa aus; unser Lied sucht aber die Schuld an den einzelnen Göttern nachzuweisen, wobei es viel klügelnden Scharfsinn aufbietet, und wo dieser nicht ausreicht, sogar zu absichtlichen Erdichtungen und Entstellungen greift, weshalb es der Mythologe nur mit Vorsicht benutzen sollte. Indem es dem Loki diese Anklagen der Götter in den Mund legt, und ihn so zum Feinde, zum bösen Gewißen der Götter macht, faßt es dessen Wesen schon in einem ziemlich modernen Sinne auf, von dem z. B. Thrymskwida noch nichts weiß.

Absichtliche Erdichtungen und Entstellungen finden wir in dem Vorwurf der Buhlerei, welchen Loki der Reihe nach fast gegen alle Göttinnen richtet. Was zunächst Idun (Str. 17) betrifft, so ist von ihr nicht bekannt, daß sie den Mörder ihres Bruders umarmt habe. Von Gerda freilich, mit der sie sich, wie wir bei Skirnisför angedeutet haben, zu berühren scheint, kann dieß gesagt werden, da Freyr ihren Bruder Beli erschlagen hatte. Da aber beide Wesen sonst in diesem Gedicht auseinander gehalten sind, indem Idun als Bragis Gattin erscheint, und Gerda Str. 42 als Freys Gemahlin, so war der Dichter zu solcher Identification nicht berechtigt, und es ist ein Nothbehelf, wenn er sich dieses sonst gebräuchlichen Mittels hier bedient. Gefion wird D. 36 als jungfräulich gedacht, was freilich mit D. 1 nicht zum Besten stimmt. Was ihr aber Str. 20 Schuld gegeben wird, scheint wieder auf einer absichtlichen Verwechselung, und zwar mit Freyja zu beruhen, die sich für das Kleinod Brisingamen den Zwergen Preis gab, vgl. Sn. 354–357 und Gr. Myth. 283. Nun führt zwar Freyja nach D. 35 auch den Namen Gefn, der dem Gefions verwandt sein mag; aber


Empfohlene Zitierweise:
Karl Simrock (Hrsg.): Die Edda, die ältere und jüngere, nebst den mythischen Erzählungen der Skalda, 6. Aufl., Stuttgart 1876, Seite 394. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Edda_(1876).djvu/402&oldid=- (Version vom 18.8.2016)