Seite:Die Edda (1876).djvu/397

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Anonym: Edda

als die Personification des kühnen Entschlußes: „Auf Tyrs Rath unternimmt Thor die gefahrvolle Fahrt zu Hymir, er folgt der Eingebung des verwegensten Muthes. Der Besuch der Eismeere muste selbst dem unerschrockenen Sinne der nordischen Seefahrer für das Gewagteste gelten.“ Dem gemäß hat ihm die Verwandtschaft Tyrs im äußersten Riesenlande den Sinn, daß der Kühne im Lande der Schrecken und Fährlichkeiten heimisch sei, und die lichte Mutter, die dem ankommenden Sohne den Trank der Stärke bringt, erscheint ihm als „die edle strebsame Heldennatur, die den kühnen Muth gebar, ihn zum Hause der Gefahren hinzieht, in demselben vertraut macht und kräftigt.“

Für Hymiskwida mag diese Deutung gelten, obwohl Tyrs Sohnschaft zu jener lichten Erdgöttin, welche unter der Allgoldenen verborgen ist, gewiss aus uralter Überlieferung fließt. Daß seine Mutter eine Erdgöttin war, muß an anderer Stelle erwiesen werden; aber schon Handbuch §. 43 ist dargethan, daß er den Fenrir nicht fütterte, weil er der Kühnste ist unter den Göttern, sondern weil dieser lichte Himmelsgott im Norden zuletzt nur noch für den Gott des widernatürlichen Krieges galt, der Verwandte wider Verwandte führt, und die Leichen der darin Erschlagenen den Untergang großziehen, der in Fenrir vorgestellt ist. Wenn er den Arm dem Fenrir verpfändet haben sollte D. 34, wie Odhin dem Mimir das Auge, so ist dieser Arm das Schwert, wie er selber der Schwertgott. Als solcher ist er seiner Natur nach einarmig, da das Schwert nur Eine Klinge hat, ganz wie Odhin einäugig sein muß, weil er der Himmelsgott ist und der Himmel nur ein Auge hat, die Sonne; wie aber der Widerschein der Sonne im Waßer zu der Dichtung von Odhins verpfändetem Auge Veranlaßung gab, so ist das Schwert, das dem Fenrir den Rachen sperrte, zu der andern von Tyrs dem Wolf verpfändeten Arme benutzt worden.

Tyr spielt in der Hymiskwida nur eine Nebenrolle; gleichwohl ist in seinem Verhältniss zu der Allgoldenen, in welcher wir die Erdgöttin erkannt haben, ein für das Verständniss seines Mythus zu wichtiger Zug gerettet, als daß wir ihn in so abstracte Gedanken sich verflüchtigen laßen möchten, wie diejenigen, welche Uhland auf das Zeugniss der j. Edda von Tyrs Kühnheit gründet.

Im Übrigen erzählt das Lied den Hergang ganz verständlich und wir können dem Leser seine Deutung selbst überlaßen. Gelingt ihm dieß nicht, so mag er sich bei Uhland Raths erholen, dessen Erläuterungen uns nur darin nicht ganz genügen, daß die nordische Färbung der Erzählung, welche den Hymir zu einem Frostriesen gemacht hat, ihn übersehen läßt, daß es

Empfohlene Zitierweise:
Karl Simrock (Hrsg.): Die Edda, die ältere und jüngere, nebst den mythischen Erzählungen der Skalda, 6. Aufl., Stuttgart 1876, Seite 389. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Edda_(1876).djvu/397&oldid=- (Version vom 31.7.2018)