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Anonym: Edda

Sprache, zu der wir aber den Schlüßel nicht mehr entbehren. Vermehrt schien sie dadurch, daß man das Gedicht nur zur Hälfte erhalten glaubte. Wie es sich damit verhält, werden wir bald sehen. Auch über seine Echtheit sind Zweifel angeregt. Dietrich (Zeitschrift VII, 314) erklärt es nach Dr. Schering zu Bessastadr in Island für ein Machwerk später Aftergelehrsamkeit und jedenfalls jünger als Snorris Edda. Auch Uhland (Mythus des Thor 128), der sich um seine Erklärung sehr verdient gemacht hat, weist ihm eine verhältnissmäßige späte Abfaßungszeit an, urtheilt aber sonst günstig von ihm, indem er das innere Verständnis der mythischen Symbolik noch durchaus darin herschend findet.

Für seinen spätern Ursprung bezieht man sich auf mancherlei Entlehnungen aus Liedern ältern Gepräges, als Wöluspa, Grimnismal und Wegtamskwida, welche zwar nicht geläugnet werden können, aber die Annahme, daß es jünger sei als Snorris Werk, nur wahrscheinlich machen. Was in letzterm seinem Inhalt entspricht ist der Mythus von Idun, den es aber, ohne Iduns Wesen und symbolische Bedeutung umzuwandeln, doch so wesentlich verschieden behandelt, daß an eine Entlehnung nicht gedacht werden kann. Eine kurze Vergleichung beider Darstellungen wird nähern Ausschluß gewähren. In D. 56 sehen wir Idun mit ihren verjüngenden Äpfeln von dem Riesen Thiassi, der die Gestalt eines Adlers angenommen hatte, entführt, worauf die Asen grauhaarig und alt werden. Sie nöthigen darum Loki, der an ihrer Entführung Antheil genommen hatte, sie wieder zurück zu bringen. Er thut dieß in Gestalt einer Nuß, oder nach anderer Lesart einer Schwalbe, wobei Thiassi ums Leben kommt. Hienach deutet Uhland Idun, in deren Namen er schon die Erneuung ausgedrückt findet, auf den wiederkehrenden Frühling, oder näher auf das frische Sommergrün in Gras und Laub, und ihre Entführung durch den Riesenadler auf die Entblätterung der Bäume und Entfärbung der Wiesen durch den rauhen Hauch der Herbst- und Winterwinde. Auch auf Iduns Erscheinung in unserm Liede findet dieß Anwendung, so wenig dessen Inhalt sonst mit Snorris Bericht übereinstimmt. Idun (Urd) ist auch hier verschwunden, aber kein Riese hat sie entführt: sie ist von der Weltesche herabgesunken und weilt in Thälern bei Nörwis Tochter, der Nacht, wie es scheint in der Unterwelt, wodurch ihr Schicksal dem Gerdhas in dem zuletzt besprochenen Liede ähnlich wird. Das Herabsinken von der Weltesche zeigt uns Idun wieder als den grünen Blätterschmuck, in dem die Triebkraft der Natur sich verkündet. Das Verschwinden der schönen Göttin, die in der Pflanzenwelt waltet, ist auch hier der Herbst, und der allgemeinste

Empfohlene Zitierweise:
Karl Simrock (Hrsg.): Die Edda, die ältere und jüngere, nebst den mythischen Erzählungen der Skalda, 6. Aufl., Stuttgart 1876, Seite 369. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Edda_(1876).djvu/377&oldid=- (Version vom 31.7.2018)