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Anonym: Edda

In diesem Gefühle hab ich mich seit funfzig Jahren der Wiederbelebung unserer alten Dichtung und Sage gewidmet. Was ich auf diesem Felde zu leisten bemüht war, will ich hier nicht erwähnen. Hat es bei der Nation die Aufnahme nicht gefunden, die ich mir versprach, so liegt dieß vielleicht an ihren schweren Schicksalen, die eine höhere Hand zum Beßern lenke. Doch auch so gereichen mir meine Erfolge zur Ermuthigung und ein viel mächtigerer Antrieb ist die Überzeugung, den rechten Weg eingeschlagen zu haben.

Eine Übersetzung beider Edden besaßen wir bisher noch nicht. Von der ältern waren uns nur einzelne Lieder zugänglich gemacht, weniger unvollständig lag die jüngere vor. Selbst in Schweden und Dänemark giebt es kein Buch, das die ältere und jüngere Edda umfaßte, wie sie in dem gegenwärtigen zu gegenseitiger Erläuterung zusammengestellt sind. Durch Vereinigung beider bildet es gleichsam die nordische Bibel, und somit auch die unsrige, da der Glaube der Nordmänner im Wesentlichen mit dem deutschen übereinstimmt.

In Deutschland war der Eifer der christlichen Priester leider mit zu großem Erfolge bemüht, das Heidentum bis auf die letzten Spuren zu tilgen. Von der eigenthümlich deutschen Gestalt des germanischen Glaubens sind uns fast nur Andeutungen erhalten. Am meisten ist der Verlust unserer heidnischen Götter- und Heldengesänge zu beklagen, welche den lebendigsten Ausdruck der ursprünglich deutschen Weltanschauung enthalten haben müßen. Ein glücklicherer Stern hat im Norden über dem Glauben unserer Väter gewaltet. In Island, dem abgelegensten Winkel der Erde, blieb er gleich den Gluten des Hekla unter Schnee und Eis der Gletscher geborgen. Wollen die Deutschen nun die ihrem Geiste eingeborenen und noch einwohnenden Götter verehren, wollen sie den Geist ihrer ältesten Geschichte zu sich sprechen laßen, so müßen sie nach diesem äußersten Thule wandern, und die Früchte kosten, die unter dem starrsten aller Himmel gereift sind.

Als um das Ende des zehnten Jahrhunderts auch in Island das Christentum eingeführt wurde, blieb es durch seine Armut und Entlegenheit vor der Überhandnahme des ausländischen Geistes bewahrt. Nach dem fernen kalten Eilande lockte fremde Geistliche kein Anreiz. Seine Priester waren Eingeborene, zwar auch im Auslande in der neuen Glaubenslehre und der Kunst des Schreibens unterrichtet, doch der Liebe zu ihrem einsamen Vaterlande, seiner Sprache, seinen Sitten und Eigentümlichkeiten nicht entwöhnt. Während daher in Deutschland der Glaubenseifer der christlichen Priester und Mönche alle einheimische, mit dem Heidentum verwachsene


Empfohlene Zitierweise:
Karl Simrock (Hrsg.): Die Edda, die ältere und jüngere, nebst den mythischen Erzählungen der Skalda, 6. Aufl., Stuttgart 1876, Seite 335. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Edda_(1876).djvu/343&oldid=- (Version vom 18.8.2016)