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Anonym: Edda

selbst der Juden und Polen, denn jene erhält in der Verbannung ihre angeborne Zähigkeit, diese die Vaterlandsliebe; die Deutschen aber, die sich beider Tugenden weniger zu rühmen haben, würden ganz aus der Reihe der Völker gestrichen und selbst ihre letzte Spur verweht werden.

Doch so trüben Ahnungen dürfen wir uns nicht überlaßen. Das deutsche Reich hat zwar schon seit dem Untergange der Hohenstaufen nur noch ein Scheinleben fortgeführt, und die neuen Staatenbildungen, die auf seinen Trümmern erwuchsen, haben uns einander immer mehr entfremdet. Ein Gemeinschaftliches war uns geblieben: die Sprache und die Literatur. Diesen verdanken wir es, wenn sich neuerdings unser Volk wieder als ein deutsches zu empfinden begann und die zerstückten Glieder des Reichs allmählich wieder zusammenwuchsen. In ihnen sahen wir bis 1866 den einzigen Trost, die letzte Hoffnung unseres Volkes. Aber die Sprache wird mit Fremdwörtern überfüllt, die Literatur von Übersetzungen aus allen Nachbarzungen bei Seite gedrängt: wär es zu verwundern, wenn der deutsche Sinn zuletzt den Einflüßen des Auslands erläge? Ihn und das vaterländische Bewustsein zu nähren und zu stärken, ist darum unsere nächste Pflicht und dieß können wir nur durch Wiederbelebung unserer alten Sage und Dichtung. Dieß theuerste Vermächtniss unserer Väter müßen wir der hereinbrechenden Flut sittenloser Erzeugnisse des modernen Auslands als nationalen Hort entgegenstellen, um die Wiederkehr eines patriotischen Selbstgefühls in unser Volksbewustsein anzubahnen. Der gewaltige Aufschwung, welchen die Erforschung unserer heimischen Altertümer in den letzten dreißig Jahren genommen hat, läßt hoffen, daß es damit noch nicht zu spät sei. Aber mit Erforschung unsrer Alterthümer ist es nicht schon gethan, sie wollen Neuerthümer werden, das Erbe der Väter will zum Nutzen der Enkel verwandt sein, die versunkenen, endlich erlösten Schätze unserer Vorzeit dürfen keiner zweiten Verwünschung anheimfallen: wir müßen sie ummünzen oder doch vom Rost befreit von Neuem in Umlauf setzen; den vaterländischen Göttern genügt es nicht, wenn ihre Bildsäulen in Museen aufgestellt werden, sie wollen in unsern Herzen ihre Auferstehung feiern.

Die Erkenntniss des deutschen Altertums nach allen Richtungen hin ist von zweien Brüdern wesentlich gefördert und mit Hülfe hochverdienter Mitstrebenden und Jünger zu der gegenwärtigen Blüte gebracht worden. Der Dank des Vaterlands wird ihnen nicht entgehen; ihr Name, der schon jetzt in unvergänglichem Ruhme stralt, braucht hier nicht genannt zu werden.


Empfohlene Zitierweise:
Karl Simrock (Hrsg.): Die Edda, die ältere und jüngere, nebst den mythischen Erzählungen der Skalda, 6. Aufl., Stuttgart 1876, Seite 334. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Edda_(1876).djvu/342&oldid=- (Version vom 18.8.2016)