der kapitalistischen Ausbeutungsformen und die Hochzüchtung des Imperialismus, das ist die Aussaugung abhängig gemachter Fremdgebiete für Gewinnzwecke der Kapitalisten des erobernden Staates, hat sich der Ideengehalt der gegenwärtigen Gesellschaftsform teilweise derartig entsittlicht, daß die auf sozialem Rechtsgefühl gegründete natürliche Moral der Menschen revolutionäre Abhilfe heischt. Wird unter proletarischer Moral die Moral der Gleichheit und Gegenseitigkeit verstanden, die sich der unsozialen Macht mit dem revolutionären Zorn des Beleidigten und Entrechteten entgegenwirft, so ist hier die sittliche Unterscheidung von einer Bürgerlichkeit am Platze, die da meint, ihre eigennützigen Versklavungsmethoden mit jeder Roheit, jeder Tücke und jeder seelischen Verknechtung verteidigen zu dürfen. Wird aber den Proletariern gesagt, in ihrem Kampfe gegen Unterdrückung und Schändung seien Lüge und Verleumdung, Hinterlist, Doppelzüngigkeit und Verräterei erlaubte und gegebenenfalls sogar innerhalb der eigenen Richtungskämpfe gebotene Klassenwerkzeuge, so kann nicht vernehmlich genug betont werden, daß hier die Verfallsmoral des Bürgertums Blasen treibt, gerade die Verfallsmoral, die die Revolution gegen das Bürgertum notwendig macht. In gewaltsamen Auseinandersetzungen bestimmt der Feind die Waffen, die gegen ihn geführt werden müssen. Aber da werden die Waffen offen getragen, und die Moral ist bei dem Teil, der für die gerechtere Sache kämpft. Im Ideenkampfe dagegen ist die Moral bei dem Teil, der ohne Falsch ist und die Fahne der reinen Ueberzeugung vor sich herträgt. Die Anarchisten weisen eine Moral weit von sich, die die ursprünglichen Begriffe von Recht und Unrecht verleugnet. Das ist keine proletarische Moral, das ist Arglist und Untreue, die auch nicht Wesensmerkmal der Bürgerlichkeit schlechthin ist, sondern Ausdruck ihrer Verdorbenheit im bloßen Materialismus. Soll das Proletariat die Erneuerung des menschlichen Rechtes bringen, so muß es das Recht zu seiner Sendung in seinem sittlichen Verhalten pflegen und bereit finden. Die zentralistischen Parteien indessen sammeln Proletarier um sich, denen sie mit schönen Worten zum Munde reden; aber hinter ihren Worten verbergen sich Machtabsichten, und diese Machtabsichten verdecken Lügen, die die Arbeiter zu ganz andern Zwecken in den Kampf vortreiben als sie selbst denken. Diese Parteien erklären Lügen und Hinterhältigkeiten für einwandfreie List und betrügen, indem sie die Kämpfer zu Betrug verführen, die Kämpfer selbst. Den Abscheu dagegen, daß man Mißerfolge zu Erfolgen umlügt, verspotten sie als bürgerlich. Da es aber noch viele Bürger gibt, in denen das Gerechtigkeitsgefühl keineswegs abgetötet ist, die daher aus ihrem natürlichen Empfinden heraus im Augenblick der Entscheidung einer von Idealen getragenen Revolution leicht gewonnen werden könnten, stärkt die sittliche Unzuverlässigkeit bei den Proletariern die herrschende Klasse sogar moralisch, stößt die menschlich Sauberen vom Bündnis mit dem Proletariat zurück und zersplittert die arbeitende Klasse durch gegenseitiges Mißtrauen und erbärmlichen Bruderzwist. Die Lüge ist die natürliche Notwehr Machtloser, um die Möglichkeiten der Macht einzudämmen und der Autorität auszuweichen. Kinder belügen ihre Eltern, Eheleute belügen einander, Schüler, Rekruten, Untergebene, Fromme belügen die Lehrer, Feldwebel, Vorgesetzten, Geistlichen, weil sich ein gesundes Freiheitsgefühl gegen die Zumutung aufbäumt, Rechenschaft in Dingen ablegen zu sollen, die man mit sich selbst abzumachen hat. Da sündigt nicht der Lügner, da sündigt der Belogene gegen die Wahrheit; denn wo Macht ist, findet die Wahrheit keine Luft zum Atmen. Wo aber gelogen wird, um Macht zu erringen, da ist die Lüge ein Anschlag auf die Freiheit, und die Revolution wird den Sozialisten die Aufgabe stellen, nicht allein die Machthaber des alten Systems zu vertreiben, sondern die Führer des Proletariats zur Rechenschaft zu ziehen und keinen von ihnen zur Mitarbeit am neuen Werden zuzulassen, der je die Menschen getäuscht hat, welche ihm Glauben schenkten, wenn er von Freiheit sprach, der je die Versicherung abgab, er sei nur dienendes Organ seiner Auftraggeber und den Vorbehalt verschwieg, daß er es war, um ihr Beherrscher zu werden.
Duldsamkeit untereinander und Wahrhaftigkeit gegen alle ist Bedingung zum Siege. Die Ordnung der Freiheit hängt ab von der Aufrichtigkeit aller, die die Freiheit errichten wollen. Aus Lippenbekenntnissen entsteht keine neue Welt. Die Anarchisten, die die neue Welt der Freiheit, der Gleichheit, der Gegenseitigkeit, der Gerechtigkeit, der Wahrhaftigkeit und der Verbundenheit aller mit allen schaffen wollen, müssen ihre Bekenntnisse in Taten kleiden. Das heißt, sie müssen ihr Leben führen, wie sie wünschen, daß es in der staatlosen Gesellschaft des Kommunismus von allen zu führen sei. Die Forderung ist nicht, daß jemand aus der kapitalistischen Fron ausbrechen sollte oder könnte: das Joch des Staates kann nur in gemeinsamem
Erich Mühsam: Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Fanal-Verlag Erich Mühsam, Berlin 1933, Seite 295. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Befreiung_der_Gesellschaft_vom_Staat.djvu/45&oldid=- (Version vom 31.7.2018)