Anhängerschaft zugerechnet: Jede zentralistische Organisation ist sogar bereit, der Massengewinnung wegen Abstriche und Aenderungen im Programm und im Kampfverfahren vorzunehmen, und noch jede revolutionäre Partei hat, da sie zur Vergrößerung ihres Mitgliederbestandes auf unrevolutionäre Massen angewiesen ist, Zugeständnisse an ängstliche Stimmungen und Versprechungen machen müssen, die sich auf bloße Ausbesserungen an den Erscheinungsformen des kapitalistischen Staates beschränken. Jede hat Anpassungen an kirchliche und nationalistische Erziehungsvorurteile vorgenommen, so daß mit der Hochzüchtung zentralistischer Organisationen zu Massenparteien zwingend die allmähliche Preisgabe der revolutionären und selbst der sozialistischen Zielsetzungen eintrat.
Die Zusammensetzung anarchistischer Vereine oder Bünde kann und darf keiner anderen Erwägung unterworfen sein, als dem Bedürfnis von Anarchisten, mit anderen Anarchisten zusammen für die Anarchie zu wirken. Der föderalistische Charakter aller anarchistischen Zusammenschlüsse kann den Gedanken, Massen von Teilnehmern in einer Gruppe organisatorisch zu erfassen, gar nicht aufkommen lassen. Die politischen Vereinigungen der Anarchisten müssen stets darauf bedacht sein, jeden einzelnen Genossen gleichberechtigt mit allen zur Geltung kommen zu lassen. Da keine Zentrale, keine Führerschaft im Sinne der Ueberordnung vorhanden ist, deren Macht sich im Verhältnis zur Zahl der ihr gehorsamen Anhängerschaft steigert, hat keine anarchistische Gruppe von der Aufnahme schwankender, unüberzeugter und herdenmäßig zusammenströmender Personen Nutzen zu erwarten. Da ferner keine Herrschsucht, kein persönlicher Ehrgeiz und kein Strebertum bei Anarchisten auf die Rechnung kommt, materielle Lebenssicherung nicht geboten wird, auch keine Aussicht auf Beförderung besteht, bleiben Leute, die auf den Schultern des Proletariats den Aufstieg zur Oberschicht vollführen möchten, der anarchistischen Bewegung von selbst fern. In nichtrevolutionären Zeiten ist daher an das Anwachsen anarchistischer Organisationen zu Aufnahmebecken von Massen nicht zu denken. Die Aufgabe dieser Vereinigungen erschöpft sich in der Pflege der Idee, der Kameradschaft, der Klärung widerstreitender Meinungen, der Erörterung aller Fragen, die die Arbeiterschaft, die Revolution und die freiheitliche Bereitung der sozialistischen Zukunft betreffen und in der beispielgebenden Ausgestaltung föderativen Organisationslebens. Daß dabei die Gefahr naheliegt, in unfruchtbarem Vereinsgeschwätz zu verknöchern, sich mit dem ewigen Schmoren im eigenen Fett zufrieden zu geben und den Zusammenhang mit der von Tagesfragen bewegten Arbeiterklasse zu verlieren, darf nicht verkannt und soll nicht verschwiegen werden. Diese Gefahr kann aber bei rechtem Verstehen der anarchistischen Lehre leicht vermieden werden, wenn die Genossen begreifen, daß der Kampf für eine Idee sich niemals außerhalb des Kampffeldes abspielen kann. Dazu braucht der Anarchismus nicht den Rahmen für Massenaufzüge und Massenschwüre abzugeben; aber er hat überall einzuwirken, wo die Massen aufmarschieren und Schwüre ablegen. Aufgabe der Anarchisten ist, ohne Eigennutz für die eigene Organisation alle Massenveranstaltungen zu beleben und zu ermutigen, alle Erregungen im öffentlichen Geschehen tätig zu beeinflussen, in alle revolutionären Stimmungen den Geist der Freiheit hineinzutragen. Ein Anarchist ist nicht derjenige, welcher die Marken eines anarchistischen Grüppchens klebt, sondern der, dem die Einheit von Persönlichkeit und Gesellschaft, das soziale Bewußtsein der Selbstverantwortung, der Gleichberechtigung, der freiwilligen gegenseitigen Verpflichtung, die Abkehr von Macht, Kapitalismus, Staat und Autorität zum Inhalt der Idee und zum Steuer des Verhaltens geworden ist.
Ob, in welcher Form und in welchem Umfang sich die Anarchisten in Gesinnungsverbänden organisieren, ist, sofern die allgemeinen Grundsätze gewahrt und das Entstehen von Autorität in den eigenen Reihen verhindert wird, von nebensächlicher Bedeutung. Um so schwerer wiegt die Frage, in welcher Weise der wirtschaftlichen Umgestaltung der Gesellschaft durch anarchistische Tätigkeit vorgearbeitet werden kann. Die politischen Arbeiterparteien bezichtigen die Anarchisten, sie seien in kleinbürgerlicher Denkart befangen, der materialistischen Dialektik unzugänglich – das ist die Lehre vom Zusammenfluß gegensätzlicher Erscheinungen zur höheren Einheit der aus nur ökonomischen Quellen gespeisten Gesellschaftsgeschichte –, sie wollten erst die Menschen bessern und nach der Läuterung aller Gemüter aus idealistischen Bausteinen die gerechtere Wirtschaft in Sozialismus und Kommunismus aufrichten. Das Gegenteil davon ist richtig. In krassem Gegensatz zu den marxistischen Zentralen lehnt gerade der Anarchismus jedes Bestreben ab, die Arbeiterschaft anders als in Organisationen auf ökonomischer Grundlage zu sammeln. Dialektisches Denken
Erich Mühsam: Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Fanal-Verlag Erich Mühsam, Berlin 1933, Seite 286. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Befreiung_der_Gesellschaft_vom_Staat.djvu/36&oldid=- (Version vom 31.7.2018)