Leib und Willen dabei sein muß, daß alles was geschieht in freier Uebereinstimmung der Handelnden selbst geschieht, daß keiner zentralen Leitung gefolgt wird, sondern dem selbstverantwortlichen Pflichtbewußtsein der von gesellschaftlichem Geiste erfüllten Persönlichkeit. Wo Massen in Bewegung sind, müssen es zur Masse vereinte Persönlichkeiten sein, sonst kann ihre Bewegung nicht zur Freiheit führen, sondern nur zur Uebertragung von Macht an diejenigen, die sie führen. Die Kultur der Persönlichkeit bedeutet nämlich nicht das Heranzüchten von Führern, sondern ist im Gegenteil der einzige Schutz gegen die Gefahr, von Führern mißleitet zu werden. Die zentralistischen Arbeiterparteien, wie überhaupt alle autoritären Organisationen und Mächte verlangen, um ihren Führern die blinde Gefolgschaft der Geführten zu sichern, durchaus keine Pflege der Persönlichkeit, und zwar ebenso wenig von den Führern wie von den Geführten. Wo Persönlichkeit wirkt, ist freiheitlicher Geist, der mit keinem Zentralismus vereinbar ist. Die autoritären Führer erheben sich über die Menge niemals durch die Ueberlegenheit in Charakter und geistigem Wert, sondern immer nur durch Befehlshabereigenschaften, die sich nur bei gering entwickelten Persönlichkeiten großziehen lassen. Daher ist es auch gewöhnlich so, daß die Führer zentralistischer Organisationen nicht durch eigene Willenskraft an die Spitze gelangen, sondern zu Führern ernannt, nicht einmal gewählt, werden, da sie die Eignung bewiesen haben, unkritisch Machtbefehle von einer ihnen überstellten Obrigkeit an ihre Untergebenen weiterzuleiten und mit autoritären Ansprüchen vor Kritik zu schützen. Solche Führer aber werden, ebenfalls durch Ernennung, zu verehrungswürdigen und unfehlbaren Personen aufgeblasen, was nur dadurch möglich wird, daß man den Persönlichkeitswert der Menschen allgemein zum Nichts herabdrückt. Je weniger die Persönlichkeitskultur gilt, um so üppiger steht der Personenkult in Ansehen. Der Anarchismus verwirft jeden Personenkult und wirkt ihm entgegen durch sorgsame Pflege der Persönlichkeit. Wo jeder alle sozial nützlichen und den eigenen Lebenswillen stärkenden Eigenschaften frei und unbehindert ausbreiten kann, sich seiner Besonderheiten und seiner Leidenschaften, sofern sie dem gemeinsamen Ganzen keinen Abbruch tun, vor niemandem zu schämen braucht, da ist die Achtung aller vor allen verbürgt, da ist gegenseitige Ehrung, da hat Macht, Vergottung, Kriecherei, Personenkult und Herrschaft keine Stätte.
Die Kampfbewegung des Anarchismus kann bei solcher Gesinnung nur die Bewegung in Freiwilligkeit vereinter Persönlichkeiten sein. Damit beantwortet sich die Frage von selbst, ob die Idee der Freiheit zu ihrer Pflege und Ausbreitung einer Massenorganisation bedarf. Sie bedarf des Zusammenschlusses aller Männer und Frauen, welche die Notwendigkeit der Anarchie als gesellschaftliche Lebensgrundlage erkannt haben und entschlossen sind, in föderativem Bunde unter Einsatz der ganzen Persönlichkeit jedes einzelnen, bei völliger Gleichberechtigung aller und nach dem Grundsatz der Freiwilligkeit jeder Leistung ihre Verwirklichung herbeizuführen. Je mehr Menschen sich zu dieser Aufgabe verbünden, um so rascher und sicherer wird die Befreiung der Gesellschaft vom Staat gelingen. Wenn alle Menschen Anarchisten sein werden, wird die Anarchie Tatsache sein. Dagegen ist die Ansammlung möglichst vieler Menschen in einer Organisation, gleichviel ob sie deren geistigen Inhalt in sich aufgenommen haben oder nicht, nie und nimmer das Mittel, einen Kampf zu bestehen, der auf Selbstverantwortlichkeit jedes Kämpfers, auf gegenseitige Durchdringung mit freiheitlichen Erkenntnissen und auf Entschlußfreiheit der Persönlichkeit fußen muß, soll er zur Zerstörung der Macht führen, ohne einer anderen Macht zum Aufstieg zu verhelfen. Die zentralistischen Parteien rufen zum Beitritt auf, indem sie nicht nach innerlich erfüllten Anhängern ihrer Zielsetzung suchen, sondern sich jedes Zulaufs freuen, der die Zahl ihrer Mitgliedschaft vergrößert. Da ihr Anhang von vornherein zur bloßen Gefolgschaft bestimmt ist und die Führer erledigt wären, wenn selbstdenkende Persönlichkeiten ihre Anweisungen prüfen dürften, bevor sie ihnen gehorchen, bedeutet Vermehrung der Zahl für sie Vermehrung von Macht. Sie sammeln autoritätshörige Nummern in ihren Pferch, und ihre Werbung vollzieht sich durch die Zusicherung von Vorteilen, falls die Geführten genau nach den Anordnungen der Führer ihnen die Befehlsgewalt über die Gesamtheit verschafft haben werden. Ihren Erfolg berechnen die Parteizentralen nach der Ziffer derer, die ihrem Rufe folgen. Auf Ueberzeugung legen sie so wenig Wert, daß sie ihre Werbetätigkeit hauptsächlich unter den Mitgliedern feindlicher Organisationen entfalten, die sie mit lockenden Versprechungen gewinnen, in ihre Reihen einzutreten. Eine Gesinnungswandlung wird dabei weder verlangt noch erwartet, der von der Aussicht auf Vorteile Geköderte aber ohne weiteres der Zahl der überzeugungstreuen
Erich Mühsam: Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Fanal-Verlag Erich Mühsam, Berlin 1933, Seite 285. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Befreiung_der_Gesellschaft_vom_Staat.djvu/35&oldid=- (Version vom 31.7.2018)