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In der Erkenntnis, daß Macht, gleichviel wer sie ausübt, gleichviel zu welchem vorgegebenen oder wirklichen Zweck sie begründet wurde, Ausbeutung in sich trägt, ferner daß Staat und Zentralisation, gleichviel, welche sozialen Ziele sie sich gesetzt haben, Einrichtungen der Macht sind und also Ausbeutung betreiben müssen, stellt sich der Anarchismus die Aufgabe, die Macht als Form des gesellschaftlichen Lebens, demnach jede Art Staat von Grund aus zu zerstören und statt dessen die föderative Gemeinschaft Gleichberechtigter aufzubauen. Der oft erhobene Einwand, die Zerstörung der Macht setze durch ihre Vollzugsmittel doch wieder Machtanwendung voraus, beruht auf unklarem Denken. Die Worte Macht, Zwang und Gewalt bezeichnen nämlich völlig verschiedene Begriffe, deren Gleichsetzung und Verwechslung selbst schon in den Reihen der Anarchisten verheerende Irrtümer hervorgerufen hat. Gewalt ist ein Kampfmittel, daß sich von andern Kampfmitteln wie Ueberredung, Ueberlistung, passiven Widerstand usw. gar nicht grundsätzlich unterscheidet. Die Behauptung, der anarchistische Gedanke sei unvereinbar gerade mit dem Kampf, der die Anwendung körperlicher Kraft oder ihre mechanische Verstärkung durch Waffengebrauch vorsehe, ist eine willkürliche Verfälschung des anarchistischen Gedankens. Wem Gewalt im Kampfe unangenehm ist, mag sie vermeiden, mit Anarchismus hat solche persönliche Geschmacksrichtung nichts zu tun. Da der Anarchismus den Kampf bejaht, kann er nicht eine Abstufung zwischen den äußeren Kampfformen vornehmen und eine Grenze ziehen, jenseits deren der Kampf verneint wird. Auch die Anwendung von Zwang ist nicht allgemein im Widerspruch zu anarchistischem Verhalten. Ein im Kampf bezwungener Gegner muß selbstverständlich verhindert werden, den Kampf weiterzuführen. Ein sozialer Schädling muß genötigt werden, sich in die Notwendigkeit der gemeinsamen Lebensgestaltung einzufügen. Solche Verhinderung und Nötigung ist Zwang. Unzulässig im Sinne anarchistischer Auffassung werden Gewalt und Zwang erst, wenn sie im Dienste einer Befehlshoheit stehen, und daraus erklärt sich eben die oberflächliche Gleichsetzung der drei Begriffe, daß der Staat kraft seiner Macht den Alleingebrauch von Zwang und Gewalt für sich in Anspruch nimmt. Der Anarchismus ist gegen Staatsgewalt und Staatszwang, weil er gegen Staatsmacht ist. Um der Sauberkeit des Denkens willen muß aber unterschieden werden: Gewalt ist Kampfhandlung, bloßes Mittel zur Erreichung eines Zwecks; Zwang ist Maßregel im Kampf und Mittel zur Sicherung des erreichten Kampfzweckes, Macht ist ein Dauerzustand von Gewalt und Zwang zur Niederhaltung von Gleichheitsgelüsten, ist das von oben her verfügte Zwangs- und Gewaltmonopol der Herrschaft.

Macht bezeichnet somit die tatsächliche Gegebenheit, die aus jedem zentralistischen, obrigkeitlichen, gesetzgebundenen, staatlichen Verhältnis erwächst. Als sittlicher Grundlage ihrer Herrschbefugnisse bedient sie sich des den Menschen eingeimpften Glaubens an die Berechtigung und Notwendigkeit der Autorität. Autorität ist die Maßgeblichkeit fremder Erkenntnis für das eigene Urteil. Der Anspruch auf Autorität bedeutet also die Forderung, daß Menschen auf eine Meinung verzichten sollen, an deren Stelle die blinde Anerkennung fertig gelieferter Gedanken, Regeln und Grundsätze zu treten hat. Die Hinnahme von Autorität bedeutet demgemäß Preisgabe der Denkkraft und des Willens, Unterordnung der Persönlichkeit unter von außen zugetragene Glaubenssätze und Vorschriften. Es ist ohne weiteres klar, daß Macht nicht ertragen würde, wäre der menschliche Geist nicht zuvor der Einwirkung der Autorität zugänglich gemacht worden. Wo Autorität Eingang hat, kann sich Macht festsetzen; wo Macht waltet, schafft sie der Autorität immer neue Zugänge. Seit Menschen andern Menschen Macht über sich eingeräumt haben und dadurch Machthunger sich zum wichtigsten Gestalter gesellschaftlicher Beziehungen zwischen den Menschen entwickeln konnte – im Machtgelüst liegt das hervorstechendste Unterscheidungsmerkmal des Menschen gegenüber den Tieren, bei denen das natürliche Gesellschaftsdasein nirgends von Machtverhältnissen innerhalb der gleichen Gattung verdrängt werden konnte –, seit den Anfängen der Heranbildung von Vorrechten unter den Menschen ist zu allen Zeiten der Glaube an Autorität bei denen großgezüchtet worden, die ein Machtwille sich zur Beherrschung ausersehen hatte. Denn Autorität gründet sich auf seelische Beeinflussung, auf Zubereitung des Geistes, Glauben und Vertrauen auf Kosten von Denken und Urteilen gelten zu lassen. Wer so weit gebracht ist, zu glauben ohne zu prüfen, und sei es selbst das Unmögliche und Vernunftwidrige, der wird auch bereit sein[1], zu gehorchen ohne sich aufzulehnen, selbst wo das Zweckwidrigste und seinem Vorteil Entgegengesetzte von ihm verlangt wird.

Der älteste und bis heute bewährteste Weg, Autoritätsglauben zu erwecken, ist die Vortäuschung überirdischer, göttlicher Mächte, deren Gebot der Mensch willfährig, deren Urteil er verantwortlich zu sein hat. Das ursprüngliche Gefühl von Recht und Unrecht


  1. Vorlage: sei
Empfohlene Zitierweise:
Erich Mühsam: Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Fanal-Verlag Erich Mühsam, Berlin 1933, Seite 267. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Befreiung_der_Gesellschaft_vom_Staat.djvu/17&oldid=- (Version vom 31.7.2018)