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angeführt, nur mit den Abweichungen, daß nicht Gott, sondern die Götter die Winde senden, und daß neben Titan nicht Kronos, sondern der in unseren Sibyllinen überhaupt fehlende Prometheus erscheint. Dasselbe, aber ohne Berufung auf die Sibylla, jedoch mit Kronos und Titan, findet sich in Fragmenten des Abydenos, der (nach neuesten Forschungen erst in nachchristlicher Zeit) eine Geschichte der Assyrier und Meder schrieb. Es gab also mit diesen Inhalt heidnische, nach irgendwelchen Historikern gemachte Sibyllenorakel, und damit steht in Zusammenhang, daß auch Griechen unter den Sibyllen eine assyrische oder babylonische aufzählen, gerade wie die Sibylla des 3. Buchs am Schlusse sagt, daß sie von den hohen Mauern des assyrischen Babylon komme und keineswegs Erythräerin und ebensowenig Tochter der Kirke (d. h. Kymäerin) sei (V. 809 ff.). Dahinter folgt freilich die Stelle, worin sie sich für die Schwiegertochter Noahs ausgiebt (823 ff.), und jene selben Griechen, wie Pausanias, bemerken, daß die Babylonierin nach andern Hebräerin sei; also auch eine jüdische Bearbeitung dieser Sibyllinen, wie sie uns im 3. Buche vorliegt, war in weiteren Kreisen bekannt geworden. Die Untersuchungen Hilgenfelds und Ewalds haben ergeben, daß das 3. Buch, soweit es eine relative Einheit ist, von einem ägyptischen Juden unter dem 7. Ptolemäer, Ptolemaios Physkon, um 140 v. Chr. verfaßt wurde; aber für Originaldichtung wird man es nicht ansehen dürfen, sondern wenigstens zum Teil für Kompilation oder höchstens Überarbeitung älterer Vorlagen. Die Geschichte der Welt und ihrer einander ablösenden Reiche wird darin bis auf die damalige Gegenwart fortgeführt. Über die erste Unterlage, die Dynastie des Kronos, ist noch zu bemerken, daß die Umwandlung der hellenischen Götter in alte Könige nicht nur der Richtung der Zeit entspricht, wo der Euhemerismus, nach Euhemeros von Messana (um 300 v. Chr.) benannt, alle Mythen in dieser Weise auflöste, sondern daß auch Lactantius ziemlich genau dieselbe Geschichte, in aller Breite erzählt, aus Ennius’ Euhemerus anführt, also Euhemeros’ „Heilige Urkunde“ letzte Quelle für alles ist. Die Sibyllisten der Kaiserzeit setzten die Weltgeschichte fort und behandelten namentlich eingehend die einzelnen römischen Kaiser, die hauptsächlich nach den Anfangsbuchstaben ihrer Namen angedeutet werden (s. B. V, 1-51). Man merkt hier zwar deutlich den Juden, welcher den Vespasian brandmarkt und gegen alle Geschichte durch den eignen Sohn der Herrschaft beraubt werden läßt (V. 36. 38 f.); daß aber der Jude nicht alles selbst gemacht, sondern Fremdes umgeformt hat, zeigt sich anderswo deutlich.

Die jüdische Fabrikation oder Aufputzung wurde schließlich von der christlichen abgelöst, indem die auf die jüdische folgende christliche Propaganda den Namen der alten Sibylle immer noch als ein geeignetes Mittel erfand, um Heiden zu imponieren. Schon alte Kirchenväter hatten von den jüdischen Sibyllinen ausgiebigen Gebrauch gemacht, und nun fanden sich auch Leute, welche die Sibylla die evangelische Geschichte im Futurum erzählen ließen oder mit Ἰησοῦς Χριστὸς θεοῦ υἱὸς σωτὴρ σταυρός ein Akrostich bildeten. Adeo nullus mentiendi modus fuit.

Was nun als letztes Ergebnis aller dieser Umformungen und Zudichtungen schließlich auf uns gekommen ist, bildet immerhin eine ganz unverächtliche Masse, mehr als 4000 Hexameter. Aber nur die Masse ist unverächtlich, alles andere minderwertig und natürlich auch das einzige Echtheitssiegel vorhanden, das Ungeputzte und Ungesalbte der Form, in der Überlieferung noch gesteigert, manchmal bis zu völliger Sinnlosigkeit, die an die Vorträge absichtlichen Unsinns erinnert, wie man sie zuweilen in vergnügten Gesellschaften zu hören bekommt. Natürlich ist auch die Verskunst schlecht; es verdient Erwähnung, daß dies auch gebildeten Heiden an den ihnen christlicherseits entgegengehaltenen Sibyllinen auffiel, und daß die Antwort lautete, natürlich habe die Sibylle in richtigen Versen gesprochen, aber so schnell, das die nachschreibenden Tachygraphen (Stenographen) nicht immer richtig hätten folgen können (Suidas). Die Sammlung aber, wie sie vorliegt, ist nichts weiter als ein zufälliges Chaos,

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Friedrich Blass (Übersetzer): Die Sibyllinen. Tübingen: Mohr Siebeck, 1900, Seite 180. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DieSibyllinenGermanBlassKautzsch2.djvu/04&oldid=- (Version vom 31.7.2018)