Friedrich Blass (Übersetzer): Die Sibyllinen | |
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dem Pausanias u. a. bekannten Orakeln der Sibylla standen und sogar in den jetzigen sich noch finden. Hier wurde und wird auch Homer als der künftige Sänger dieses Krieges erwähnt und seine Kunstform des Hexameters natürlich auf die Sibylla als die wirkliche Urheberin zurückgeführt, deren Bücher Homer gekannt, aber verheimlicht habe. In Hexametern waren gewiß auch die dem Heraklit vorliegenden Sprüche verfaßt, gleichwie die des Bakis, von denen Herodot u. a. reden; die Verse mögen schlecht und der Ausdruck nichts weniger als klar und schön gewesen sein, worauf sich Heraklits Bezeichnungen „unerheitert, ungeziert, ungesalbt“ beziehen. Weiter aber zeigt sich in dieser ältesten Erwähnung bei einem Jonier Jonien als Heimat der Sibylla; d. h. unter den verschiedenen Sibyllen, die man später unterschied, ist die von Erythrai in Jonien als die älteste anzusehen, wiewohl doch schon Euripides (in einem verlorenen Stücke) Sibylla als Libyerin bezeichnete. Aristophanes und Platon geben bei ihren gelegentlichen Erwähnungen keine Heimat an; später aber wird die Kunde ausführlicher, jedoch immer mehr geteilt, so daß auch Sibylla aufhört, Eigenname zu sein, und entweder Beiname oder gar eine Art Gattungsname wird. Die Sibylla von Erythrai soll Herophile geheißen haben, welcher Name auch in ihren Sprüchen nach Pausanias vorkam, neben dem der Artemis; denn sie gab sich ebendaselbst auch für eine Schwester des Apollon aus und anderswo für die Tochter desselben und wiederum für seine Ehefrau. Prophetinnen des Apollon sind die Sibyllen auch sonst; in dem italischen Kyme (Cumae) zeigte man im Apollontempel die Urne, welche die Gebeine der dortigen Sibylle, mit Namen Demo, enthalten sollte. Diese kumäische Sibylla ist schließlich unter den zehn — so viele unterschied Varro — die berühmteste geworden, einerseits durch Vergil, bei welchem sie Äneas in die Unterwelt geleitet, andererseits dadurch, daß 3 Bücher ihrer Sprüche nach Rom, angeblich bereits unter König Tarquinius Priseus, gelangten, und daß nun dort die Sibyllinen viele Jahrhunderte lang, bis in späte Zeiten der Stadt und des Reichs, eine ausgedehnte und wichtige politische Verwendung fanden. Die Vermittelung nämlich ist jedenfalls von Kyme aus geschehen, wiewohl Varro den Tarquinius für zu jung hält, um Zeitgenosse der wirklichen, wenn auch noch so langlebigen Sibylle zu sein, und darum die Erythräerin für die wirkliche Verfasserin der Sprüche erklärte.
Über diese römische offizielle Sammlung sibyllinischer Orakel sind wir verhältnismäßig nicht schlecht unterrichtet. Sie stand unter der Aussicht eines eigenen, sehr vornehmen Kollegiums, der decemviri, seit Sulla quindecimviri, sacris faciundis; diese hatten die Bücher zu Rate zu ziehen, sobald der Senat infolge von Unglücksfällen oder erschreckenden Wunderzeichen dies anordnete. Diesen praktischen Zwecken entsprachen nämlich die Orakel: sie hatten gar keine Ähnlichkeit mit den jetzt vorhandenen Sibyllinen, sondern die Form war diese: wenn dies geschieht, dann nehmt die und die Expiationen vor. Warnungen und Mahnungen mögen, neben einfachen Prophezeiungen des Zukünftigen, auch die vor Alters in Griechenland umlaufenden Sibyllensprüche gegeben haben; aber diesen in Rom gebrauchten merkt man es sofort an, daß sie für das besondere Bedürfnis des römischen Staates fabriziert waren, nur insofern den alten ähnlich, als auch sie die Prädikate „ungeziert und ungesalbt“ verdienen (Diels). Es ist uns nämlich, bei dem Historiker Phlegon in seinem Buche wundersamer Geschichten, ein im J. 125 v. Chr. zur Verwendung gekommenes sibyllinisches Orakel erhalten, indem zwar die Sammlung als solche ein Staatsgeheimnis war, aber die Veröffentlichung einzelner Stücke nach Befinden des Senats unbedenklich geschehen konnte. Die Echtheit dieses Orakels in dem Sinne, den das Wort „Echtheit“ hier haben kann, ist von H. Diels in seinem Buche: „Sibyllinische Blätter“ (Berlin 1890) glänzend erwiesen worden. Charakteristisch und nach römischen Begriffen gleichsam ein Siegel der Echtheit und Unverfälschtheit ist darin die bereits von Cicero an den Sibyllinen hervorgehobene akrostichische Form: der erste Vers des Spruches kann, wie an seinem Platze von links nach rechts, so außerdem von oben nach unten gelesen werden, indem die Anfangsbuchstaben sämtlicher Verse ihn bilden.
Friedrich Blass (Übersetzer): Die Sibyllinen. Tübingen: Mohr Siebeck, 1900, Seite 178. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DieSibyllinenGermanBlassKautzsch2.djvu/02&oldid=- (Version vom 31.7.2018)