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Büchern verständlich zu machen wußte. Und immer kühner wurde man in der Romanistenwelt. Wagte sich nicht Morf sogar an eine gesamte Literatur der romanischen Völker? Auch hier vereinigte sich der Künstler mit dem Gelehrten, um ein Werk zu schaffen, das zwar selbstverständlich nicht erschöpfend, vielleicht auch nicht immer ganz gleichmäßig war, aber jedenfalls von der Geisteswelt der Romanen vom Mittelalter bis zur Neuzeit in keck dahingeworfenen Skizzen der großen Zusammenhänge, aber auch zugleich in fein durchdachten und ausgeführten Silhouetten der einzelnen Schriftsteller ein originelles Bild bot, das noch keiner zu geben auch nur geträumt hatte.

Daß man bei so eifriger Bearbeitung der Literatur auch die Beachtung ihrer äußeren Form, ihrer metrischen Eigentümlichkeiten namentlich, nicht vernachlässigte, wird uns nicht wunder nehmen. Metrische Untersuchungen der Ursprünge romanischer Versmaße, Darstellung der Metrik der Romanen überhaupt, Erörterung von Einzelfragen sind auch der Gegenstand deutscher Forschung gewesen. Im Vergleich dazu bleibt die Stilistik noch sehr zurück. Hier sind wir über ganz bescheidene Anfänge noch nicht hinaus.

Dagegen hat man sich mit der Kultur des Mittelalters und später auch der Neuzeit in Einzeluntersuchungen sehr eifrig beschäftigt. Daß jede darüber erschienene Schrift großen Wert habe, kann man zwar nicht behaupten, aber es ist zu hoffen, daß die Einzelarbeit auch hier die Gesamtarbeit hervorrufen wird. Schon Voßlers neuestes Werk über Frankreichs Kultur im Spiegel seiner Sprachentwickelung ist ein Anzeichen des Verständnisses, das sich in dieser Hinsicht anbahnt. Sprachgeschichte und Literatur sind nicht durch Stacheldraht von einander getrennte Provinzen, sie beleben einander und müssen sich vereinigen, um vom Kulturleben der Romanen älterer und neuerer Zeit ein vollständiges Bild zu entwerfen. Das äußere und innere Leben unserer Nachbarn romanischer Zunge ganz zu erfassen, ist ja das Ideal, dem wir nachstreben. Ob und wie wir es erreichen, bleibt der Zukunft vorbehalten.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1207. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/78&oldid=- (Version vom 20.8.2021)