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Frühling“ durch F. Vogt verspricht wenigstens für die Frühzeit eine Belebung der Diskussion. Den engern Zusammenhang der Literatur des Mittelalters mit der zeitgenössischen Gesellschaft und den führenden Kreisen zu ermitteln, ist man von mehr als einer Seite erfolgreich bemüht gewesen.

Die Technik der Edition, die in den Arbeiten Lachmanns und seiner Schüler früh gereift war, ist in der Folgezeit und gerade auch im Anfang unseres Zeitabschnittes unter dem überwiegenden Einfluß der grammatischen Studien hier vernachlässigt worden, dort auf Abwege geraten, von denen auch Erscheinungen der letzten Jahre noch Zeugnis ablegen: das Vertrauen auf die Sicherheit sprachlicher Kriterien führte die einen zu gewagten Umschriften und Rekonstruktionen, die falsche Andacht vor der überlieferten Sprachform ließ die andern auf jede Betätigung der philologischen Kritik verzichten. Da war es eine erlösende Tat, als zwei Schüler Richard Heinzels (gest. 5. April 1905), Carl von Kraus und Konrad Zwierzina, sozusagen die Lachmannsche Methode wieder entdeckten und durch eine Fülle neuer Beobachtungen über die Sprache und Sprachkunst der großen mittelhochdeutschen Dichter bereicherten. Die neue Diskussion metrischer Fragen, welche hauptsachlich durch Sievers hervorgerufen wurde, hat der Textkritik mittelhochdeutscher Dichter direkt nur geringen Ertrag gebracht.

Auf dem Gebiete der Grammatik haben die Germanisten einerseits durch die Dialektforschung und anderseits durch das Studium der Entwicklung der Schriftsprache, an dem sich von Konrad Burdach bis Max Jellinek zahlreiche Gelehrte beteiligt haben, neue Gesichtspunkte und eine Verfeinerung der Methode gefunden, die auch solchen zugute kamen, die diesen Arbeitszweigen selbst fernerstanden. Ihre Fruchtbarkeit erwies sich vor allem in dem ersten Versuch einer zusammenfassenden deutschen Grammatik, den Wilhelm Wilmanns (gest. 29. Januar 1911) unternahm und der nach dem jähen Tode dieses ausgezeichneten Gelehrten, der wie kein zweiter unter uns Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft vereinigte, nun leider ein Torso geblieben ist.

Wie die Dialektforschung der historischen Grammatik, so ist die Volkskunde der deutschen Mythologie zugute gekommen; sie hat ihre Entwicklung zu einer germanischen Religionsgeschichte wesentlich gefördert und zeitigt bei uns ähnliche Erscheinungen wie in der klassischen und orientalischen Altertumswissenschaft. Und hier zeigt sich stärker als auf irgendeinem anderen Gebiete das Bedürfnis und der Drang zu zusammenfassender Darstellung; in den letzten fünfundzwanzig Jahren sind von dem kleinen Büchlein F. Kaufmanns ab bis zu dem jüngst erschienenen Werke von K. Helm reichlich ein halbes Dutzend Versuche erschienen, System und Geschichte, religiösen und dichterischen Gehalt der der germanischen Mythologie im Zusammenhang klarzulegen.

Auch in der Heldensage ist durch die Volkskunde neues Leben gekommen, zum Teil vermittelt durch die Anregungen von außen her, besonders von dem genialen Dänen Axel Olrik. Aber auch durch die Initiative deutscher Forscher, die zum Teil von Müllenhoff und Heinzel ausgingen, ohne an deren Lehren zu haften: O. L. Jirizek, A. Heusler, F. Panzer, F. v. d. Leyen, H. Schneider u. a. Wenn bei Müllenhoff die Beschäftigung mit der Heldensage noch hauptsächlich der Aufdeckung verschütteter Mythen galt, ist es heute das Bestreben der Gelehrten, dem dichterischen Wesen und Gehalt der Sagen

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1200. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/71&oldid=- (Version vom 20.8.2021)