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dafür ein äußeres Zeichen, so denke man an den Versuch, im Interesse des Parsifal, also um eines einzelnen Künstlers und eines einzelnen Kunstwerks willen, die Klinke der Gesetzgebung in Bewegung zu setzen.

So versöhnen sich auf allen Gebieten des geistigen Lebens und versöhnen sich auch in dem Begriff der Volksbildung Individualismus und Sozialismus immer wieder miteinander. Das Volk wird in seinem Denken, Fühlen und Wollen immer abhängig sein und den Bildungsstoff stets aus zweiter Hand sich geben lassen müssen; daher braucht es Vorbilder und Führer, Lehrer und Leiter auch hier. Die Volksbildung ist, wie schon ihr Name sagt, demokratisch, da sie auch den Genialsten und Höchstgebildeten in den Dienst des Volkes stellt; sie ist aber nicht weniger auch aristokratisch oder gar monarchisch, da erst die Führer aus dem Haufen und der Masse ein Volk schaffen und es sich geistig Untertan machen und in ihre Gefolgschaft zwingen. Und doch ist letzten Endes auch das wieder demokratisch: es ist auch für das Volk der Weg zur Höhe, wo die Freiheit wohnt, ist Hilfe zur Selbsthilfe, ein Bilden zum Selbständigwerden und Sichselberbilden. Auf freiem Grund mit freiem Volke stehen – das ist das Ziel aller Volksbildungsarbeit.

Rückblick und Ausblick.

Diese Ausführungen haben nicht darstellen können, was in dem bestimmten Zeitraum der letzten 25 Jahre sich entwickelt, gestaltet und gewandelt hat; das öffentliche Leben ist ein Kontinuum, das beständig, aber für unser Auge unsichtbar, für unsere Hand ungreifbar anders und immer wieder anders wird. Sie konnten daher nur versuchen, an gewissen Erscheinungen der Gegenwart aufzuzeigen, wie es heute ist. Erst wenn wir weitere Strecken rückwärts gehen, wird uns der Wandel deutlich. Vor 120 Jahren hat Wilhelm von Humboldt in seinen „Ideen“ versucht, „die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“. Es war ein Protest gegen den viel regierenden und alles bevormundenden Polizeistaat des aufgeklärten Despotismus, der diese Grenzen so weit als möglich gezogen und sich beschränkend und hemmend in alles und alles eingemischt hatte. Dagegen hat ihm Humboldt jede Kulturaufgabe abgesprochen und ihm lediglich den Schutz nach innen und nach außen als Aufgabe zugewiesen; namentlich habe er sich schlechterdings alles Bestrebens zu enthalten, „direkt oder indirekt auf die Sitte und den Charakter der Nation anders zu wirken, als insofern dies als eine natürliche, von selbst entstehende Folge seiner übrigen schlechterdings notwendigen Maßregeln unvermeidlich sei“. Das war das Staatsideal des Individualismus mit seiner Innerlichkeit und seinem sich selbst genügenden In-und-durch-sich-selber-sein: alles war privat und persönlich und sollte es bleiben. Dieser Auffassung trat in den Tagen der Schlacht von Jena Hegel in seiner Phänomenologie und noch ausdrücklicher 1820 in seiner Rechtsphilosophie entgegen und entwickelte ein sich an der Staatsomnipotenz des klassischen Altertums orientierendes Staatsideal ganz anderer Art, worin der Staat sozusagen alles war und als Träger des Nomos das ganze Leben des Volkes bis in sein Innerstes und Intimstes, bis in seine Gesinnung hinein für sich in Anspruch nahm: hier war nichts privat, alles öffentlich. Diese Hegelschen Gedanken haben im neunzehnten Jahrhundert mehr

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1691. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/562&oldid=- (Version vom 12.12.2020)