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dazu braucht es Generationen. Auch mit der Zulassung der Frauen zu politischen Versammlungen und Vereinen durch das Reichsgesetz vom 15. Mai 1908 ist eben nur eine Ausbildungsmöglichkeit eröffnet, nicht sofort auch etwas Neues wirklich schon da. Daß in den Reden und Schriften der Frauenrechtlerinnen immer nur von der Forderung und dem Recht darauf, so selten von der Übernahme von Pflichten und vor allem von der Pflicht die Rede ist, erst einmal zu lernen und sich langsam und gründlich auf die Ausübung dieses Rechtes vorzubereiten, zeigt, wie wenig selbst die Führerinnen sich der Schwierigkeiten und der Verantwortung bewußt sind. Und ein Staatsmann hätte sich jedenfalls auch zu überlegen, nicht bloß was eine abstrakte Gleichheitstheorie und ein weder rechts noch links schauendes Pochen auf Menschheitsrechte verlangt, sondern welche Wirkungen zum Wohl oder Wehe des Staates die plötzliche Verleihung des Stimmrechts an Millionen politisch ungeschulter und uninteressierter Frauen haben müßte; ich glaube nicht, daß sich dann einer leichten Herzens zu diesem Sprung ins Dunkle entschließen möchte. Dagegen wird man zunächst einmal daran denken können, den Frauen in kirchlich-religiösen Dingen das Stimmrecht zu geben, wie das in dem Entwurf zu einer neuen Kirchenverfassung für Elsaß-Lothringen vorgesehen und gefordert ist. Und ihre Verwendung in gewissen öffentlichen Berufen der Armen- und Waisenpflege, der Jugendfürsorge und der Jugendgerichte oder auch staatlich als Telephonistin oder Postbeamtin, oder in der Schule als Lehrerin und Schulkommissionsmitglied, wird ebenfalls dazu beitragen, sie an das öffentliche Leben heranzubringen und sie ganz anders als bisher für dessen Aufgaben zu interessieren und an dessen Formen äußerlich und innerlich zu gewöhnen. So sehen wir eine Fülle von Entwicklungsmöglichkeiten, die zum Teil schon zu Wirklichkeiten geworden sind und weiteres in greifbare Nähe rücken; aber wie überall, so heißt es auch hier und soll heißen: sich von unten heraufdienen! Nur das verspricht dauernde Erfolge und gefahrfreie Fortschritte.

Daß die Frauen von dem ihnen seit 1908 zugesprochenen Recht, an politischen Versammlungen und Vereinen teilzunehmen, vielfach Gebrauch machen, gehört auch insofern zu diesen Entwicklungsmöglichkeiten, als sie dadurch Einfluß gewinnen auf die Programme, Forderungen und Anträge der politischen Parteien und damit auch auf die Gesetzgebung: man denke z. B. an den Einfluß der Rosa Luxemburg in der sozialdemokratischen Partei oder an die Verhandlungen auf der Mannheimer Tagung der Fortschrittlichen Volkspartei, bei der sich freilich auch die Widerstände selbst in den Reihen dieser Fortgeschrittenen gegen die weitgehenden Forderungen der Frauen deutlich gezeigt haben.

Umgekehrt wird man nicht bestreiten können, daß die Gesetzgebung auch ohne die direkte Mitwirkung der Frauen bisher schon an sie gedacht und für sie gesorgt hat. Selbst in dem von ihnen vielangefochtenen Bürgerlichen Gesetzbuch hat die Rechtsstellung der Frau eine wesentliche Verbesserung erfahren; und die Schutzgesetzgebung für weibliche Arbeiter ist – teilweise gegen und über die Wünsche der Gleichheitsfanatikerinnen hinaus, die die Frauen in jeder Beziehung den Männern gleich behandelt wissen wollen, während doch die Natur selbst durch die Mutterschaft, die sie ihnen zugewiesen hat, eine ungleiche Behandlung notwendig macht – gerade in Deutschland besonders sorglich ausgestaltet. Was einzelne einsichtige und wackere Arbeitgeber aus eigener Initiative

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1684. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/555&oldid=- (Version vom 12.12.2020)